Lesen: …
Hören: Lieder aus dem Archiv und bei Juhtjuhp, um den Bericht aus den Quellen zu verifizieren.
Essen & Trinken: Die weltbesten hausgemachten Frikadellen (ohne alte Brötchen drin!) und Schmorkohl. Bier dazu.
Arbeiten: Die alten Kasperlepuppen mit den geschnitzten hölzernen Köpfen und den schönen Kleidern, die mehrere Jahre von einer ungenutzten Vorhangstange das Geschehen in der Stube beobachteten, müssen entstaubt werden.
Sehen: „Vom Lokführer, der die Liebe suchte.“ (2018) Fast ein Stummfilm. Die Bilder sprechen für sich. Eine schlichte, ergreifende Geschichte. Von den Protagonisten ebenso ergreifend dargestellt.
Kein Mensch ahnt, was ihn in einem neuen Jahr erwarten wird. Hätte mir jemand Andeutungen darüber gemacht, was mir in jenem Jahr entgegenkäme, ich hätte eine abfällige Antwort parat gehabt.
Mein Grossvater hatte die HörZu im Abonnement. Darin durfte ich „Original und Fälschung“ ausfüllen. In der oberen Hälfte der Seite die Abbildung eines Gemäldes und darunter die Kopie mit etlichen Fehlern. Fernseh- und Radioprogramm waren noch nicht interessant. Das änderte sich erst, als wir die Zeitschrift TV Hören und Sehen wöchentlich in Haus bekamen. In den Programmzeitschriften war das Radioprogramm abgedruckt. So sass ich nachmittags vor dem Empfänger und drehte am Sendesuchrad.
Schulaufgaben erledigte ich, wenn überhaupt, nur noch sporadisch. Die Musik. Meine Fantasien zu den Liedern. Kompensationsleistungen einer missratenen Kindheit. Und dazu die Irrungen und Wirrungen der Pubertät. Ich las nicht mehr. Halt, das stimmt nicht ganz. Pflichtlektüren des Unterrichts schon noch. Und ein Wörterbuch Englisch. Zum einzig wichtigen, dem Textverständnis der englischen Songs. Herrje, was wusste ich damals von den Textbezügen der Lieder zur englischen Geschichte und Literatur. Eigentlich nichts. In der Schule wurde über Musik gesprochen. Kennste die neue von? Hast du das schon gehört? Meine Schwester war auf einem Konzert von…
Nebenbei entstanden neue Vokabeln für eine eigene Sprache. Scharf. Die neue Single von den Stones ist ne ganz scharfe Sache. Wer von uns sprach noch von den Rolling Stones? Das sind die Stones, Sportsfreund. Als würde man Keith Richards persönlich kennen. Mich schärfte alles, was scharf abging. Musikalisch zumindest. Das Gegenteil von scharf war matt. Schlager waren matt. Die Steigerung dazu ätzend.
Erste Hörversuche mit Radio Luxemburg. Mir gefielen die dauernden Störgeräusche nicht. Musste man aber hören weil es ein Sender mit scharfer Musik war. Und weil am nächsten Morgen wieder drüber gesprochen würde vor dem Unterricht, in den Pausen und nach dem Unterricht.
Vor den Osterferien sind meine Eltern vom Direktor des Gymansiums eingeladen worden. Eine ganz matte Sache. Meine Mutter ist hingegangen. Neuerliche Gefährdung der Versetzung bedeutete in meinem Fall das Ende auf dieser matten Schule. Mir wars eigentlich egal. Mir war überhaupt das meiste egal. Ätzend. Der Direx hatte einen scharfen Vorschlag. Jetzt an Ostern sofort die Schule verlassen, um im Heimatort die Realschule zu besuchen.
Dann nimmt ihr Sohn die Versetzung ins nächste Schuljahr einfach so mit; er kommt schliesslich von der Höheren Schule. So wurde es mir erzählt. Und so wurde es gemacht. Ich verabschiedete mich von keinen Mitschülern. Ich nahm die schöne Erinnerung an die letzten Musikstunde mit. Unsere Musiklehrerin liess die Langspielplatte von Blind Faith laufen.
Ich blieb zwei Tage zuhause. Am dritten war wohl alles eingetütet und ich betrat pünktlich zum Unterrichtsbeginn die Realschule. Der Klassenlehrer stellte mich vor. Auch hier war das Schülerleben musikalisch umrankt. Der Stil war jedoch anders. Irgendwie matt. Da gabs noch Buben, die sich den Pausen ein Kämpfchen lieferten. Ätzend. Mein Schwein pfeift. (eine neue Redewendung!). Im letzten Schuljahr haben wir Gymnologen uns in den Pausen auf der Toilette getroffen. Für kühne Reden. Zur Verabredung eines Schbaernacks im Unterricht. Und obendrein für eine schlanke Sportzigarette. Danach gings geschärft in den Unterricht. Und hier, diese unterbelichteten Dorfbuben. Aber es dauerte nicht lange. Das Jugend ist schnelllebig. Auch hier auf der Realschule. Dieselben Rituale wie zuvor. Ich fühlte mich zuhause. Schuljahresende. Scharfe Versetzung. Geschafft.
Die grossen Ferien. Vom 17. Juli bis zum 3. September August. Zwei Ereignisse warten auf mich, die alles verändern werden. Oberscharf. Zweimal drei Wochen, denen ich seit Monaten schon entgegen fieberte. Wichtig waren mir die letzten drei Wochen. Aber zuerst für drei Wochen auf den Bau. Hartes Leben für einen Schüler. Zwischen scharf und ätzend war alles dabei. Aber: ich habe wichtige Erfahrungen für mein Leben gemacht. Heute weiss ich es, damals ahnte ich es nicht.
Dann war es endlich soweit. Drei Wochen England. Scharf. Ohne Eltern. Oberscharf. Etwa zwanzig magere Pfadfinderbuben mit ihren Rucksäcken am Bahnhof. Eine lustige Fahrt nach Oostende. Nachts die Überfahrt nach Dover. Die Einreise mit all den Kontrollen. Damals, wie heute wieder. Währung umrechnen. Und aufpassen, denn hier fahren euch die Autos von der anderen Seite übern Haufen. Matt, überaus matte Angelegenheit.
Die erste Woche im Gilwell Park im Norden Londons. Pfadfinderleben wie wir es kannten. Zelte, Lagerfeuer, Fahrtenlieder. Mich begeisterten die Unterschiede zwischen den englischen Ausrüstungen, den Liedern, den Ritualen und unseren. Ich kam mir dabei manchmal altmodisch vor. Benzinkocher statt Lagerfeuer. Matt eben. Für mich endete in dieser Woche meine Kindheit.
In der zweiten Wochen waren wir Gäste in englischen Familien. Ich freute mich darauf, denn ich hatte im Gilwell Park Kontakt zu einigen englischen Boy Scouts geknüpft. Ich hatte natürlich Pech und kam zu einer Familie, deren Sohn gerade in die Gruppe der ganz kleinen Buben gekommen war. Jimmy, sit still, don´t be a naughty Boy. (Ich hörs noch heute). Absolut Ätzend. Aber ich erfuhr etwas anderes. Interesse, an mir und meinen Interessen. Das kam so.
Wir durften tagsüber durch die Stadt streifen. Einzige Bedingungen: auf den Verkehr von links aufpassen und und immer mindestens vier Jungs zusammen. Man stelle sich das heute vor. Vier Buben auf den Strassen Londons. Und was wir alles gesehen und erlebt haben. Oberscharf. Versteht sich, dass nie irgendetwas passiert ist.
Ich war in der Carnaby Street. Die Leute dort trugen irre (neues Wort!) Klamotten. Lange Haare und kurze Röcke. Und zwischendurch Fish&Chips. London Underground hin und her. Wie haben wir uns bloss zurechtgefunden? Beeindruckend war das Imperial War Museum. In einem Laden in Soho habe ich mir eine Langspielplatte gekauft. Donovan – Universal Soldier. Meinen Besuch des Kriegsmuseums und die Platte von Donovan nahm mein Gastgebervater abends zum Anlass, um mit mir darüber zu sprechen. Er legte die Platte auf und machte mir durch Erklärungen manche Texte verständlich. Ein Erlebnis besonderer Art für mich. Zuwendung. Einfach Sprache. Der Mann bemühte sich, dass ich ihn verstehen konnte. Ich kann die Stube, die wulstig schweren Sessel und das Kaminfeuer aus dem Gasbrenner noch heute vor mir sehen. Menschliche Wärme ist unvergesslich.
Die dritte Woche fand wieder pfadfinderlich statt. Zeltleben. Alles, wie man es kennt. Merkwürdig, wie diese dritte Woche bei vielen der damals Beteiligten ins Vergessen versunken ist. Vor einigen Jahren waren einige englische Freunde von damals angereist, um mit einigen von uns das Jubiläum unserer Begegnung zu feiern. Selbst von den unseren englischen Freunden wusste niemand mehr genaueres über die Ereignisse in dieser dritten Woche zu sagen. Nicht mal den Ort erinnerten wir. Unsere Erklärungen bestanden darin, dass wir deutschen Buben wahrscheinlich so überwältigt von London waren, dass das Danach verschüttet worden ist. Und die Engländer hatten gegen die vielen Vorurteile und heftige Kritik gegenüber den Hunnenkindern zu kämpfen. Daran waren ihre Erinnerungen noch sehr lebendig.
Kuck dir nur die geflochten Knoten an ihren Halstüchern an. Hitler Youth.
Na und, unsere Boys haben doch die gleichen Knoten. …
Im Jahr darauf waren wir die Gastgeber. Glückliche Jugendtage.
Schon auf der Rückfahrt brannten wir darauf, unseren älteren Pfadfindern von unseren Abenteuern erzählen. Wie wir durch London gezogen sind. Madame Tussauds. Das aufregende Geschepper und Geklapper der alten Londoner U-Bahnen. So erinnerten wir uns gemeinsam und steigerten uns dabei. Bei unserer Ankunft sind wir nicht nur in Soho gewesen, sondern wir hatten Jack the Ripper auch persönlich gegenüber gestanden. …
Für samstagsabends war eine Zusammenkunft in unserem Pfadfinderheim geplant. Ich kam an und vor dem alten Gebäude standen einige Jungs meiner Gruppe. Im Erdgeschoss befand sich allerlei alten Sachen der Kirchengemeinde und im Obergeschoss waren unsere beiden Räume. Ein langer Schlauch.
Und warum steht ihr noch hier unten?
Bist du matt oder taub?
Musik.
Ja, aber von oben.
Wir gingen hoch und waren entsetzt. Laute Musik. Stampfende Rhythmen. Kreischende Gitarren. Und zu alldem unsere älteren Vorbilder in Blue Jeans. Die Entweihung unseres Heims; nein, ihre Zerstörung. Alles vorbei. Unsere Aufregung war echt und tief empfunden. Wir zogen uns zurück. Die Älteren lachten und warfen uns Sprüche hinterher. Wir diskutierten im Hof. Nach Hause ging keiner von uns. Irgendwie hatte das verruchte Treiben im Obergeschoss auch eine starke Attraktion.
Das neue Schuljahr begann. Vier Wochen nach dem schockierenden Ereignis feierten wir selbst in unserem Pfadfinderheim unsere erste Party. Jeder brachte ein paar Platten mit. Die älteren liehen uns herablassend auch einige ihrer Platten. Hinter dem Radau stampfender Rhythmen und kreischender Gitarren standen Namen wie Blue Cheer oder Jimi Hendrix. Die Party verlief erfolgreich, sodass uns der Pfarrer, der nebenan wohnte, weitere Parties mit weihevoller Geste genehmigte. Von da an, nahm die Entwicklung Fahrt auf. Dass bei uns im Gegesatz zu den Ältern selbstverständlich Mädchen anwesend waren, schien er nicht bemerkt zu haben.
Ein Freund hatte eine ältere Schwester. Die hatte schon einen Freund, mit dem sie im Kino war. Dadurch erweiterte sich der Wortschatz des Freund. Das Verb fummeln hielt Einzug und wurde verwendet, ob es passte oder nicht.
Kannste mir mal die neue Platte von Cream ausfummeln. Womit ausleihen gemeint war.
Fummel doch mal ne Kippe rüber.
Ich hab nur noch die Letzte.
Stell dich nicht so an. Dann fummel mir wenigstens ne Halbzeit.
Zur Sache Schätzchen.
Neue Namen und deren Platten kamen über mich wie ein warmer Landregen. Stetig tröpfelnd. Durch stetiges Ver- und Ausleihen entstand ein fantastischer musikalischer Kosmos.
Spontan fallen mir ein: Creedence Clearwater Revival, Love Sculpture, Amon Düül, Bob Dylan, The Troggs, The Move, The Flock, Herman Hermits, King Crimson, Emerson Lake & Palmer, The Petards, Fleetwood Mac, Janis Joplin, Procol Harum, The Who, Nice, The Byrds, The Kinks, Ten Years After, Soul Caravan (Xhol), Dave Dee Dozy Mich & Tich, Yes, Eric Burdon/Animals, Graham Bonny, Family, Julie Driscoll, The Doors, David Garrick, Santana, Pink Floyd, Traffic, Leonrad Cohen, Led Zeppelin, John Mayall / Bluesbreakers, Steppenwolf, The Rattles, Spencer Davis Group, Manfred Mann… und Frank Zappa /Mothers of Invention,,,
Und ausserdem Easy Rider. Der Film.
Ich kauf mir später eine Maschine und dann düse ich den Highway runter. Wie oft habe ich diesen Satz gehört? Keiner in meinem Umfeld, der ihn ausgesprochen hat, hatte diesen Jugendtraum jemals realisiert. Es war ja auch noch weit bis zur ersten Schrankwand und Einer-Zweier-Dreier Sitzmöbelgarnitur. Und Gardinen an Fenstern.
Wir lebten jetzt und nahmen das alte Hercules Moped von Reini, der machte den Rider. Ein cooler Tramper stand auf dem Bürgersteig am staubigen Strassenrand. Die langen Haare standen millimeterweit über dem oberen Rand seiner Ohren. Er hielt den Daumen den tragbaren Cassettenrecorder in die Luft: vollaufgedreht. Reini kam aus der hundert Meter weiten Ferne den Highway unserer Hauptstrasse schnurgeradeaus auf uns zu. Vor der leichten S-Kurve streckte Reini das linke Bein so echt harleymässig raus und wendete die schwere 50ccm Maschine in weitem Bogen. Der Tramper stieg hinten auf und die beiden Desperados entschwanden knatternd bis zur nächsten Querstrasse. Aus dem kleinen Lautsprecher quäkten dazu die Byrds: Wasn´t born to follow ~(hier zum Vergleich das matte Video aus dem Film).
Das Problem bestand nun darin, die Fahrkunst mit der Musik zu synchronisieren. Das machte viele Versuche nötig. Wenig Verständnis für unsere Versuche hatten entweder die Anwohner oder die Polizei. Oder beide. Von den ständig leeren Batterien des Cassettenrecorders ganz abgesehen.~~~ .
Das Leben war eine fummelige Sache. Aber immer musikalisch umrahmt. Drei Sampler werden zu Wegweisern: That´s Underground, The World of Blues Power und Blues News. Einmal musste ich mit meiner Mutter in die nahe Stadt. In einem Kaufhaus erledigte sie ihre Besorgungen, derweil ich mich in der Schallplattenabteilung tummelte. Sie stand plötzlich neben mir. Ich hielt eben Led Zeppelin I und II als Doppelabum in der Hand.
Wenn ich die haben könnte…
Sie schaute kurz, nahm mir das Album aus der Hand, ging zur Kasse und bezahlte. Ich glaubte in diesem Moment tatsächlich, dass sie das Album für sich gekauft hätte. Sie schenkte es mir. Schon bald danach kam ein zweites Doppelalbum ins Jugendzimmer. The Jimi Hendrix Experience – Electric Ladyland. Auf dem Cover das schöne Portrait von Jimi Hendrix, Mitch Mitchell und Noel Redding.
Wohin das führen würde?
„Ich weiß, es wird böse enden.“
(Fortsetzung folgt)
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