radfahren und sich freuen

Lesen: Grant Petersen: Just ride. A radically practically Guide to riding your Bike.
Hören: Das neue Werk von Отава Ё (Otava Yo): Правильно и внятно (Laut und deutlich). Ein schönes Video dazu
Essen & Trinken: Lammlachs mit Lavendelconfit. Baguette & Burgunder. Ein Genuss.
Zudem hat die Spargelsaison begonnen.

Arbeiten: Verkäufe zusammenstellen, fotografieren, beschreiben und präsentieren.
Sehen: Mir gefällt derzeit die Dokureihe „Der Osten. Entdecke wo du lebst. Ich lebe zwar nicht dort, aber wer weiss: meine Zukunft beginnt gerade eben erst…

 

 

Das Buch von Grant Petersen hatte mir gerade noch gefehlt. Da räumt einer auf mit dem Gemache auf dem Fahrradmarkt. Petersen war selbst Rennfahrer und hat die USofA auf dem Rad durchquert. Er hat als Manager in der Fahrradindustrie gearbeitet. Eines Tages ist er aufgewacht und hat seine eigene kleine Fahrradmanufaktur gegründet. Er entlarvt in Just Ride die falschen Mythen um Abmessungen, Gewichte und den ganzen Wirbel, der derzeit den Konsum auf dem Fahrradmarkt anheizt. Im Buch behandelt er alle Themen rund ums Radfahren.

„Keine Fahrt ist zu kurz: Ist ein kleiner Löffel Ihres Lieblingseises zu wenig, um sich damit zu beschäftigen? Ist eine zweiminütige Massage nicht die Mühe wert? Mit dem Fahrradfahren ist es genauso. Es macht einfach Spaß, egal wie kurz es ist. Fünf Minuten Radfahren nach einem Tag im Sitzen oder Stehen sind eine großartige Möglichkeit, sich zu entspannen.“

„Die besten Fahrräder befinden sich nicht an den extremen Enden des Funktionsspektrums und sind so spezialisiert, dass sie nur eine Fahrradlänge von der Dysfunktionalität entfernt sind. Die besten Fahrräder sind langweilige Alleskönner, die man mit Geschick und Erfahrung bis an ihre Grenzen bringt.“

„Ich habe wie so viele Menschen geglaubt, dass es möglich ist, mehr zu trainieren und weniger zu essen und dies ein Leben lang durchzuhalten. Das ist die gängige Meinung, und es ist die größte Lüge im Gesundheitsbereich.“

„Lassen Sie Ihre Lichter nicht blinken. Wenn Sie es im Dauermodus laufen lassen, verbraucht sich die Batterie schneller, aber Sie werden in der Lage sein, neue zu kaufen. Seien Sie nicht geizig und am Ende vielleicht tot.“

„In den Niederlanden trägt weniger als einer von dreißig Radfahrern einen Helm, die Straßen sind voller Radfahrer, und die Zahl der Fahrradunfälle und Kopfverletzungen ist weitaus geringer als in den Vereinigten Staaten.“

„Egal, wie viel Ihr Fahrrad kostet, solange Sie es nicht für Ihren Lebensunterhalt nutzen, ist es ein Spielzeug, das Spaß machen sollte. Amen. Fahren Sie einfach.“

Das sind einige Zitate aus Just Ride.
Ich biete zur Zeit einige klassische Mountainbikes zum Verkauf an. Alle über dreissig Jahre alt und einwandfrei funktionsfähig. Interessenten stellen ihre Fragen. Es ist zum Haareausraufen. Da wird ein Retrobike zum Flanieren gesucht. Wir sprechen über ein Downhillrad von 1990. Darauf zu flanieren ist sehr unbequem. Das hängt mit der Geometrie des Rahmens zusammen. Es geht nicht um Wissen und Verbindlichkeit, sondern um Zurschaustellung und Gehabe ohne Fundament. Das Rad ist austauschbar wie die vintage Kamera oder einen anderen Lust&Laune Artikel.
Eine andere Anfrage zielt auf die Sitzhöhe. Mit Innenbeinlängen und Rahmenhöhen werden seit den 1990er Jahren unsägliche Glaubensbekenntnisse zelebriert. Mit den Motorfahrrädern ist alles noch viel schlimmer geworden. Seriöse Fahrradhändler schätzen, dass fast dreiviertel aller Käufer von Motorfahrrädern ein Rad ohne Motor garnicht richtig bewegen könnten. Die ständig steigenden Unfallzahlen belegen diese und ähnliche Aussagen. Und dann die Rennradfahrer. Das ist besonders viel Geld im Spiel. Spezialteile am Rad. Spezialschuhe. Spezialkleidung. Spezialenergieriegel. Und eine besondere Spezialseelenhaltung. Bedauerlicherweise ist für das öffentliche Bewusstsein die Rennradindustrie Vorreiter für die zunehmenden Fanfarenstösse in Sachen Fahrradextremismus.

Mir ist das alles Wumpe. Ich lese Just Ride mit Genugtuung. Und nicht bloss, weil ich genauso denke. Ob Uraltrad aus den 1930er Jahren ohne Gangschaltung oder ein schnittiges Mountainbike (Bergfahrrad) aus den frühen 1990er Jahren. Mir macht Radfahren Freude. Und das wird auch so bleiben.

 

Heute suchte ich nach einem Teil für ein Fahrrad. Dabei fiel eine weisse Karteikarte (A7) zu Boden. Der Eintrag darauf ist vom 26.9.2018 und lautet:
„Das letzte Mouchoir de Monsieur aufgetragen. In der Jugend freut man sich auf das Neue. Im Alter kann man sich über letzte Male freuen. Mit Freude und in Dankbarkeit Abschied nehmen.“

 

(Terrot Grand Tourisme Luxe GTHL, 1951)

 

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Sammeln anhäufen ent-sorgen behalten

 

 

Lesen: Die Empfehlung war brauchbar. Wolf Schneider : Speak German. Warum Deutsch manchmal besser ist.
Hören: David Bowie : The Man who sold the World (1972).
Essen & Trinken: Ostern? Von allem zu viel. Man weiss es vorher und bereut hinterher.
Arbeiten: Bestände ordnen, sortieren, ent-sorgen (sic!).
Sehen: Eine Dokumentation. Die Sprache lügt nicht – Die Tagebücher von Victor Klemperer. Dringend empfehlenswert. Man kann sich anregen lassen, den eigenen Sprachgebrauch kritisch zu reflektieren.

 

Und wieviele Ostereier hast du denn gesammelt? Der Osterhase hat doch bestimmt fleissig Eier gelegt?
Ein Schwatz über den Bürgersteig. Fragen, die man allenfalls an Kinder richtet. Ach, die Nachbarn.
Frohe Ostern.

Sammeln. Jäger und Sammler. Eine Kulturform beziehungsweise Wirtschaftsweise, die seit Jahrhunderten von immer weniger Menschengruppen weltweit gelebt wird. Dafür nimmt die private, und später auch öffentliche Sammelei seit Beginn der europäischen Expansion im 16. Jahrhundert als neue Kulturform zu.
Heutzutage wird fast alles gesammelt, was irgendwie sammelbar ist. Ein globaler Multimilliardenmarkt. Befeuert zudem durch Internetplattformen. Die aufregende Suche nach einem begehrten Sammelstück ist auf eine finanzielle Frage geschrumpft. Fast alles ist irgendwo verfügbar. Alles nur eine Frage des Preises.

Als ich vor vielen Jahren in einer Anrichte hinter einer Zwischenwand ein vollständiges und neuwertig erhaltenes Meyers Konversationslexikon fand, standen dabei noch einige andere Bücher. Neben anderen fand ich zwei dunkelblaue Leinenbände der Gesamt-Ausgabe der Werke von Stefan George. (Georg Bondi, Berlin 1927–1934). Die Ausstattung, die besondere Schrift und das feine Büttenpapier beeindruckten mich. Natürlich wusste ich ausser dem Namen des Dichters, der hier aus der Nähe stammte, nichts weiter über sein Leben und seine Arbeit.
Ich begann zu recherchieren. Zu jener Zeit (vor dem Internet!) trafen die ersten Kataloge von Versandantiquaren bei mir ein. Eine neue Welt eröffnete sich. Hier und dort wurde in einem Katalog ein Band von Georges Gesamtausgabe angeboten. Fand ich ihn preiswert – war er mir den Preis wert, so bestellte ich. Nach einigen Jahren hatte sich so ein Wissen gebildet zum Werk und zur Person Stefan Georges. Es war inzwischen ebenfalls klar, dass die Komplettierung wegen der Seltenheit einzelner Bände schwierig werden würde. Am Fall George streifte mich erstmals eine Ahnung, dass ich eher Jäger als Sammler, Suchender als Hortender sein könnte. Nach zehn Jahren fand ich in einem Kölner Antiquariat den achtzehnten und letzten Band der Gesamtausgabe.
Als ich einige Jahre später meine Bibliothek um ein anderes Gebiet erweiterte, wurde dabei die George GA zum Tauschobjekt. Mir blieb das Leben eines Dichters, die kritische Würdigung seines Werkes. Darüberhinaus die vielen  Erinnerungen an die jahrelange Suche und die Begegnungen und Gespräche mit zahlreichen Antiquaren. Ich stand an Stefan Georges Geburtshaus und an seinem Grab. Die achtzehn Bände vermiss(t)e ich nicht mehr.

Ob ich durch meine Sammelei reich geworden bin. Finanziell war es ein Geben und Nehmen. Aber das erworbene Wissen und die zahllosen menschlichen Begegnungen sind mir ein Lebensschatz voller Erfahrungen geworden. Durch die Frage meines Nachbarn tauchte mir die Frage, die ich mir schon so oft gestellt habe, erneut auf. Warum habe ich in meinem Leben so viele unterschiedliche Sammelgebiete beackert?

Mir fällt dazu ein Bonmot von Mascha Kaléko ein.

„Was ich mir wünschte
bekam ich nie.
Aber auch darauf war kein Verlass.
Das Beinahe war schlimmer als das Nein“

 

Begonnen hat bei mir alle Sammelei mit den Bilderbögen vom Herba Verlag Plochingen. Wenn vom Hausmeister beim wöchentlichen Schulsparen fünf DM auf einer Karteikarte eingetragen waren, bekam man dafür einen Bogen mit mehreren Bildern. Das Album, um die Bilder darin einzukleben, kauften die Eltern in zwei Fällen dazu.
Diese Bilderbögen, mögen den Grundstein für meine Allgemeinbildung gelegt haben. Schon bald danach folgten die Bilder aus Wundertüten. Die folgende Aufzählung notiere ich spontan. Sie wird wahrscheinlich nicht vollständig sein.

* Herba Sammelbilderalben. Deutsche Geschichte Bd. 1 u. 2, Deutsche Heimat Bd.1 Süddeutschland, Bd. 2. Nord-, Mittel- u. Ostdeutschland, Tiere in Wald Flur,  Die Vögel der Heimat, Völkerkunde…
* Fussballbilder aus Wundertüten.
* Karl May (Film)Bilder aus Wundertüten.
* Die Andere Bibliothek des Verlages Greno (1985 -1989).
* Braun Haushaltsgeräte und HiFi Komponenten.
* Die Werke der jeweiligen literarischen Hausgötter in Erstausgaben und dazu vertiefende Sekundärliteratur.
* Wiking Modellautos im Massstab 1:89.
* Verlag Zweitausendeins (Frankfurt/Main) zu 98% komplett inklusive aller Nebenprodukte.
* WMF Modell 400 Besteck.  Reich verziertes Rosenmuster von festlicher Wirkung (Katalogtext).
* Aus dem Rowohlt Verlag die Reihen „rde – Rowohlts deutsche Enzyklopädie“, „rororo Bild Monographien“, „dnb – das neue buch“.
* Swatch Armbanduhren.
* Vom Bibliographischen Institut Leipzig Meyers Konversationslexika von der 4. bis zur 8. Auflage (1885 – 1942), Brehms Tierleben (1910). DDR Meyers (8 Bde. ausgezeichnetes Nachschlagewerk!).
* Schallplatten, Cassetten, CDs.
* März Verlag.
* Bang & Olufsen HiFi Komponenten.
* Nachschlagewerke aller Art. Handwörterbücher, Fachlexika.
* Ducati Motorräder. Einzylinder der Jahre zwischen 1966 und 1975.
* Montblanc Writers Edition. Füllfederhalter als Hommage an berühmter Schriftsteller.
* Diederichs Verlag Jena. Die Reihen „Erzieher zu deutscher Bildung“, „Das Zeitalter der Renaissance“, „Die Märchen der Weltliteratur“, „Religion und Philosphie Chinas“, „Thule – Altnordische Dichtung und Prosa“, „Die deutschen Volksbücher“, „Religiöse Stimmen der Völker“, „Atlantis – Volksmärchen und Volksdichtungen Afrikas“, diverse Mappenwerke und Vorzugsausgaben.
* Märklin Metallbaukästen.
* Einige ausgwählte Möbel von Eileen Gray.
* LGB Grossmodellbahnen im Massstab 1:43 für den Betrieb im Garten.
* Olympus Kameras.
* Fahrräder der Firma Bauer, Klein-Auheim.
* Filofax Organiser.
* Meyers Reisebücher in jeweils letzten Auflagen (1922-1936).

Ich reise seit bald vierzig Jahren gerne mit alten Reiseführern. Erstens bemerke ich die zeitläufigen Veränderungen und zweitens freue ich mich an dem, was trotz der vergangenen Ereignisse noch erhalten geblieben ist. Als Liebhaber des Bibliographischen Instituts Leipzig bevorzuge ich die Meyers Reisebücher. Etliche Exemplare habe ich bereits wieder abgegeben, da ich diese Ziele nicht mehr bereisen werde.
Neulich sah ich die vom NDR produzierte DokuReihe Meyer-Burckhardts Zeitreisen. Der Mann reist mit einem Baedeker „Norddeutschland“ von 1914 über Land. Er hat anhand der historischen Hinweise die „verblüffendsten Details herausgesucht, deren Spuren bis ins Heute reichen“ (cit. ARD Mediathek). Es gibt also noch andere, die das gleiche tun.
Oh, ich muss hier aufhören. Der Postbote klingelt. Er wird mir den Baedeker „Nordwestdeutschland. Von der Elbe und der Westgrenze Sachsens an. Nebst Dänemark. 28. Auflage, 1905.“ überreichen. In einiger Zeit werde ich erneut die Stadt Wismar besuchen. Die war seit 1903 nicht mehr an Schweden verpachtet….

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Sonntags Blüten

 

 

 

Lesen: Johann Peter Hebel. Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Breitgefächerte Volksbildung um 1800.
Hören: Steve Harley (73) ist gestorben. Gedächtnismusik ist angesagt. Seine Musik begleitet mich seit über 50 Jahren. Sowohl mit Cockney Rebel als auch Solo. Ein grossartiger Poet und Sänger.
Essen & Trinken: Ein feines gebuttertes Croissant mit hausgekochter Marmelade aus Blutorangen verspricht einen guten Tag.
Arbeiten: Hier nicht erwähnenswert.
Sehen: Re-Vision. Ein Querschnitt durch verschiedene Filme von Rainer Werner Fassbinder. Manche hoffnungslos überholt, manche sind interessante Zeitdokumente und wieder andere bleiben erschreckend aktuell.

 

Die Sonne blinzelt durch die Ritzen des Fensterladens. Ich bin ein Frühlingskind. Rasch raus. In das kleine Dorf am Rand der rheinessischen Schweiz. Der Hochnebel lichtet sich langsam. Der Nordhang hinter dem Dorf wird von fahlen Sonnenstrahlen gestreift. Unser Ziel. Hier blühen die gelben Waldsterne, Blausterne. Lerchensporn in weiss und violett.
Blumen, die so selten sind, dass sie auf der Roten Liste ganz weit oben stehen. Sie bilden einen blühenden Teppich auf dem feuchten moosigen Waldboden. Der Anblick ergreift und geht einem zu Herzen. Zwischendrin kleine weisse Anemonenblüten. Ein rutschiger schmaler Pfad führt durch eine Fläche von etwa einem Morgen. Keine Menschen stören die Andacht. Als wir die Blütenpracht verinnerlicht haben, machen wir uns auf den Rückweg.

Zur rechten Zeit. Am Dorfrand tauchen die ersten freilaufenden Hunde auf. Wir nehmen die Autobahn nach Hause. An den Rändern die zerfetzten Büsche und Sträucher. „Wächst doch alles wieder nach, gell.“ Ein Spruch, den sich allenfalls fühllose Kettensägenproduzenten und Schredderhersteller ausgedacht haben. Und die kommunalen Ahnungslosen plappern das fröhlich nach und lassen die Sägen kreischen.

Nach einem Frühstück nutzen wir den Sonnenschein zu einer kleinen Radtour. Zudem eröffnet heute unsere beliebte Gartenwirtschaft ihre Saison. Auf dem Weg dorthin wollen wir unseren grossen Holunderbusch  ansehen und gut zusprechen. Im letzten Jahr beschenkte er uns mit seiner üppigen Fülle. Aus den Blüten wurde unser köstliches Holunderblütengelee. Aber, oh weh(!). Auch über ihn hatten sich Rohlinge hergemacht. Er konnte niemanden wirklich gestört haben hier am Rand eines besonderen Vogelschutzgebietes. Ein Bild des Jammers bot er. Mutwillige Zerstörung. Ich will glauben, dass ihm unsere Trostworte für einen Moment geholfen haben.

Wir freuen uns auf die Einkehr in dem ehemaligen Forsthaus im Wald. Als wir näherkommen sehen wir das Ungetüm. Ein grosser Traktor blockiert den Weg. Radfahrer und Wanderer müssen sehen, wie sie daran vorbeikommen. Hinten dran der Spassanhänger für die Gesellschaft der Partytrinker. Als wir unsere Fahrräder anschliessen, kommt einer aus der Gesellschaft mit einer monströsen Krawallbox aus dem Tor. (Er war gebeten worden, seine Krachmaschine vor das Tor zu stellen.
Vom Hänger aus wird nun der Hof mit Ballermannmusik beschallt. Etliche Menschen schütteln still mit den Köpfen, die Mehrheit schweigt jedoch. Die Säufergesellschaft muss nun noch lauter grölen, dass auch niemand ihren flachen Witzen entgehen kann. Alkoholpegel und Lautstärke lassen sich mühelos noch weiter steigern. Die Bewirtung nimmts achselzuckend hin; die Gesellschaft belebt immerhin schluckweise das Geschäft. Wir verziehen uns in die hinterste Ecke mit unseren Getränken. Das Kommando zum Aufbruch ruft die Spassvögel auf den Anhänger. Der Fahrer torkelt hinters Steuer seines Schleppers. Weg sind sie. Im Wald wird es wieder ruhiger.

Anschliessend machen wir uns auf den Weg nach Hause. Im Garten haben wir ein kleines Fleckchen Blausterne. Wir erfreuen uns daran und lassen den Tag Revue passieren. Es gibt ruhige Plätze. Seltene Naturschönheiten. Noch immer, mann muss sie nur finden.
Dem Zugriff, Missbrauch und der Verschandelung ist die Natur scheinbar ohnmächtig ausgeliefert. Mir erzählte eine alte Frau vor vielen Jahren, dass Bäume, Sträucher und Buschwerk die Erde vor den Unbilden des Wetters so schützen, wie das die Haare auf den Köpfen der Menschen täten. Immer mehr wird weggesägt, abgeschlagen und herausgerissen. Spürbar nehmen die Winde zu im Land. Ich frage mich, ob die zunehmende Aggression im zwischenmenschlichen Bereich damit zusammenhängt, dass wir ständig Winden ausgesetzt sind. Wer hier in der Gegend noch mit eigener Kraft sein Fahrrad bewegt, kann feststellen, dass man fast immer Gegenwind hat. Vielleicht ist die Natur mächtiger als man gemeinhin denkt.

 

 

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Musik liegt in der Luft (vii und letztens)

Lesen: Gedichte. Sämtliche von Joachim Ringelnatz. Auf den Band mit sämtlichen Gedichten von Erich Kästner warte ich.
Hören: Damo Suzuki ist verstorben und jetzt auch noch Fritz Puppel. Gedächtnismusik ist angesagt. Der Soundtrack zum Arabischen Frühling: From Tunis – Kasbah to Kairo – Tahrir Square and back (2011).
Essen & Trinken: Zitronenlinguine, gebratener Lachs, Salat – als wärs ein Feiertag.
Arbeiten: Studierende bei ihren Klausuren beobachten überwachen. Dabei den Bologna Prozess und seine Folgen einmal mehr verfluchen.
Sehen: „Ten Minutes Older“ – 15 namhafte Regisseure zeigen in ihren zehn-minütigen Filmen das Vergehen der Zeit. Ich bin gespannt.

 

Un was hat dir des jetz gebracht?
Was gebracht?
Dasde jahrelang in de Welt erumgezoche bist.
Willsde die kurz odder die ausfierlisch Antwort?
Ei, fang emol an, ich kann disch dann ja bremse.
Also gut.

So begann manches Gespräch manches Schwätzchen nach meiner Rückkehr. Ich bemerkte bald, dass alles ausser einigen Schlagworten zu nichts führen würde. Meine Erlebnisse und Erfahrungen waren kaum vermittelbar. Eine lange Liste von ausserordentlichen Erlebnissen wollte ich nicht abspulen.
Die jährlichen Urlaubsreisen lassen sich mit Auslandsaufenthalten nicht vergleichen. Meine Empfehlung an alle jungen Menschen lautet(e): geh´ für ein Jahr in ein fernes Land zum arbeiten oder studieren. Verlasse dafür unbedingt unseren Kulturkreis. Dann wirst sehr viel Brauchbares lernen für dein zukünftiges Leben.

Als ich in Südamerika ankam, waren zwei Wochen geplant zum entspannten Eingewöhnen. Karibik. Prima. In Venezuela lebte eine Bekannte. Nach einer Woche putschte Hugo Chavez. Ich lernte die ersten wichtigen Verhaltensregeln. Wer putscht schon in Europa. Was wissen wir hier wirklich von den Ereignissen weit weg. Nach der zweiten Woche war ich froh, endlich weiterzukommen. Nach drei Wochen, Wohnungssuche, Intensivkurs Spanisch und Kennenlernen der nächsten Umgebung verfinsterte sich der Himmel. El Reventador. Vulkanausbruch. Seitdem ist immer Trinkwasser im Haus, sind Bargeld und Papiere greifbar und der Wagen ist vollgetankt. Es war so traurig, die Pflanzen sterben zu sehen. Vulkanasche ist schwer. Sie legte sich auf alles. Dann kam der Regen und die staubige Schicht wurde bretthart und knickte was nicht stark genug war. In dieser Zeit lernte ich die verschiedenen lateinamerikanischen Musiken kennen. Und den russischen Nachbarn mit dem unergründlichen tönenden Archiv. Wir haben noch heute Kontakt.

Zum Gesundwerden verbrachte ich ein Jahr in Deutschland. Es ging mir zu langsam voran. Zur Beruhigung fotografierte ich viel. Ich beschäftigte mich mit meiner regionalen Umgebung. Dabei entdeckte ich so viel Neues und Schönes. Alte Vorurteile fielen ab. Es war, als hätte ich ein anderes Sehen gelernt. Als ich nach über einem Jahr endlich wieder richtig fit war, kam mir ein Angebot in Libyen gerade recht. Von meinem Aufenthalt in Tunesien aus, sollten alle Papiere für den Job erledigt werden. Ich hatte ein kleines Appartement in einem Hotel. Meine Akkreditierung sollte etwa vier Wochen dauern.
Unter dem Areal des Hotels funkelte das tiefblaue Mittelmeer. Nur wenige Kilometer entfernt lag Karthago. Und gleich daneben Sidi Bou Saïd. Das wunderschöne Dorf, in dem sich vor dem Ersten Weltkrieg zahlreiche Maler aus Europa zu Studienzwecken aufgehalten haben.

Für mich war es wie Urlaub. Ich besichtigte antike Stätten. Rund um Tunis gibt es viele Friedhöfe, angelegt für die toten Soldaten verschiedener Nationen. Der Kontakt zu einem Musikforum intensivierte sich, indem ich dort zunehmend auch Beiträge lieferte. Eine andere Entdeckung war das Internetradio. Ein Beiträger des Forums betrieb mit Gleichgesinnten eine Radiostation im Internet mit gleichzeitigem Chat. Da ist keine Langeweile aufgekommen. Von irgendwoher kam die Anregung, einen Blog zu betreiben. Über mein Leben und die Arbeit schreiben und mit Fotografien illustrieren. Gesagt getan. Erstmals in meinem Leben hatte ich mehr Kontakt zu Menschen im virtuellen Raum als im wirklichen Leben.

Ich freute mich über die beiden Italiener, die neben mir ihre Zimmer bezogen. Es war freitags, am kommenden Montag sollte ich zu einer weiteren Konsultation nach Tripolis fliegen. Die Italiener standen mit Kaffeetassen vor ihrer Tür. Wir kamen ins Gespräch, sie luden mich zu einem Kaffee ein. Wir rauchten und erzählten.
Von allen Minaretten wurden die Gläubigen aus den Lautsprechern der Moscheen zum Gebet gerufen. Es tat einen unheimlich lauten Knall. Wir sind zusammengefahren und waren ziemlich erschrocken. Eine Explosion? Es folgten in kurzen Abständen weitere Explosionen. Punktuell stiegen schwarze Rauchsäulen auf.
Die Italiener hatten gute Verbindungen. Die Sache mit dem jungen Mann war bekannt. Er wollte einen Laden eröffnen und bekam keine Möglichkeit dazu. Er versuchte es immer wieder auf verschiedenen Wegen. Er erhielt einfach keine Genehmigung. Der junge Mann wollte einfach nur arbeiten und eine Familie gründen.

In Tunesien herrschte der Diktator Ben Ali und sein Clan. Der junge Mann wählte das letzte Mittel. Er verbrannte sich in seinem Ort. Das war vor einigen Tagen. Und heute zur Stunde des Freitagsgebetes explodierte der Volkszorn. Allen war die Tat der Verzweiflung bekannt. Der Arabische Frühling hat begonnen. Seit längerem wurde bereits nach dem jungen Musiker El Général gesucht. Er lieferte den jungen Menschen die Musik und vor allem den couragierten Text zu ihrem Unmut. Der Diktator und seine Leute waren nach Ägypten geflohen. Die Explosionen? Das waren die Villen Ben Alis, seiner Familienmitglieder und seiner Vertrauten. Rasch besorgte ich Trinkwasser, Bargeld und tankte das kleine Auto. (Man erinnert sich!)

Aus Libyen erreichte mich lediglich die karge Nachricht: Abwarten. Ich betrat die ruinierten und geplünderten Villen. Über Nacht war es gefährlich geworden zu fotografieren. Schnell stand man im Verdacht, zu einem der (ehemaligen?) Sicherheitsdienste zu gehören. Ich wartete ab. Und hörte Internetradio und kommunizierte im Musikforum. Besichtigungen. Köstliches Essen. Lesen. Diese verführende Mixtur aus Weltmusik und Antike. „Abendland, wir fahren auf deinem Narrenschiff dem Abgrund entgegen.“ (André Heller).

Zwischendurch in Deutschland, lernte ich die Menschen kennen, mit denen ich bis dahin nur virtuell in Kontakt getreten war. Spannend. Ich hätte nicht gedacht, dass aus diesen Begegnungen Freundschaften entstehen würden, die selbst nach Jahren noch Bestand haben. Nach Jahren… Ich sass noch immer in diesem kleinen Appartment. Seit neun Monaten. Mittlerweile war der Arabische Frühling auch in Libyen angebrochen. Nach einem weiteren Monat teilte mir mein Kontaktmann in Tunis mit, dass im Nachbarland die Ruhe wohl nicht so schnell einkehren werde wie in Tunesien. Am besten würde ich mich… Ich verstand. Und erinnerte mich eines italienischen Bekannten aus Kolumbien. Wir hatten uns aus den Augen verloren. Wenn die Kontakte der Menschen, die weltweit arbeiten, nicht eng sind, können sie sich in kurzer Zeit verlieren. .

Zum Glück gabs das Internet. So fanden wir uns wieder. Und begegneten uns in Südosteuropa. Es gab einen Job. Dort habe ich erstmals bewusst völliges Ausgeliefertsein erlebt. Erdbeben. Davon ist mir eine Angst geblieben. Zu Trinkwasser, Bargeld und Benzin kam der Türsturz dazu. Ein relativ sicherer Platz, wenn rundum die Mauern wackeln und das Geschirr im Schrank klappert.

Dafür konnte ich mir die Zeit nehmen, um endlich mein Wissen über den Balkan zu vertiefen. Mir glühten bald die Ohren, als ich zu verstehen begann, was dort in vergangenen Jahrhunderten geschehen war. Blutgetränkte Erde. Wer welche Ansprüche erhob und wen dafür niedermetzelte. Die Interessen Englands, Frankreichs und Österreichs vor allen anderen. Der Flug vom Franfurter Flughafen nach Titograd dauerte neunzig Minuten. Wenig Zeit, um von einer Welt in eine ganz andere zu fliegen. Ziemlich schnell verstand ich, dass ich eigentlich nur sehr wenig verstanden hatte von der Kultur dieser Länder. Drei Religionen. Gegenseitig und zusammen mit alten offenen Rechnungen. Immer wieder in wechselnden Koalitionen. Sarajevo und Lubljana sind mir liebe Städte geworden.  .
Albanien, das Land, in dem ich die meisten alten schrottigen Mercedesse gesehen habe. Freundliche Begegnungen überall. Fast keine möchte ich missen. Aber mich zog es zurück in mein Land. Zu den Flüssen. Es scheint ein innerer menschlicher Drang zu sein, im Alter in die Landschaft der Kindheit und Jugend zurückkehren zu wollen. Ich bin manchen Menschen begegnet, die aus ganz unterschiedlichen Gründen irgendwo her kommen und weit weg in der Fremde alt werden (müssen).  Fast alle haben über ihr Unglück deswegen gesprochen.

Seit einigen Jahren bin ich nun wieder zurück. In dem Land, an dem man meiner Erfahrung nach auch mit wenig Geld am besten alt werden kann. Ich habe noch einige Jahre gearbeitet. Teils ehrenamtlich, teils für Kleingeld. Ich bin gesund, habe Herzensmenschen um mich, meine Werkstatt und ein überaus üppiges Musikarchiv. Ich kann hören, wann mir danach ist und was mein Herz erfreut. Wohl dem, der einen musikbegeisterten russischen Freund hat.
Das Musikforum ist ebenso zugrunde gegangen wie die Radiostation im Internet. Allzu menschlich waren die Gründe, die dazu führten. Ich freue mich über die Männer und Frauen, die mir trotz allem noch erhalten geblieben sind. Näher und ferner. Und nach wie vor lerne ich Menschen auch über diesen Blog kennen.


Es gibt keine bessere oder schlechtere Musik. Alles Geschmackssache, sagte der Affe, und biss in die Seife. Musik muss mein Herz berühren und den Verstand reizen. Am besten beides gleichzeitig. Natürlich ist es mit der Musik wie mit anderen Dingen auch. Alles hat seine Zeit und seinen Platz. Salsa, Merengue oder Cumbia Villera höre ich allenfalls im Sommer bei angenehmen Temperaturen. Für arabische Musik oder Wüstenblues brauche ich hochsommerliche Hitze. Aber ganz gleich, an wechem Ort ich auch bin, tauchen aus dem  Brunnen meiner Vergangenheit Lieder aus alten Zeiten wieder auf. Und sie passen merkwürdig in die jeweilige Situation. Ob es Pink Floyd ist oder Daliah Lavi; Brian Eno oder Udo Lindenberg. Es kann doch kaum etwas Schöneres geben, als Musik, die einem ein Leben lang begleitet.

Trinkwasser und Bargeld halte ich vorsichtshalber noch immer vorrätig. Statt auf Benzin vertraue ich mittlerweile eher einem soliden stromunabhängigen Fahrrad. Erdbeben kommen in meiner Gegend kaum vor. Ich will wenigstens hoffen, dass so bleiben wird.

 

Ich danke den lesenden und kommentierenden Menschen, die auch diese letzte Fortsetzung noch zur Kenntniss genommen haben, für die Zeit, die sie mir damit geschenkt haben..

 

 

 

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Musik liegt in der Luft (vi)

 

 

Lesen: Über die Ursprünge des Mountain Biking in den 70er Jahren in Kalifornien. Von Anfang an gings in Europa um die Konflikte mit Wanderern und Diskussionen wegen der Naturzerstörung durch diesen „Sport“. Heute heizen die Freizeitrambos auf Rädern schlichtweg alles platt. Motto: immer schneller – immer rücksichtsloser. Schade.
Hören: In Gedanken an alte Zeiten: Donovan, Achim Reichel, The Smiths, Kraftwerk,  Family usw. Rauf und runter.Und jetzt Yerba Brava. 
Essen & Trinken: Geschmorte Ochsenbäckchen mit den letzten Karotten aus dem Garten. Bauernbrot. Côtes du Rhône.
Arbeiten: Überaus angenehm: die Vorbereitungen für unsere Blutorangenkonfitüre.
Sehen: „Ivo Livi genannt Yves Montand“ – ein Mann, der seinen Weg konsequent gegangen ist. Vorbildlich. Sehr sehenswerte Doku.

 

Die Musik verkam zu einem Ventil. Bei Fahrten im Automobil. Die Gedanken hingen an den Texten. An wen kann man sich halten, wenn die Gespräche floskelhaft werden? Wieviel gilt noch ein Wort in geschäftlichen Geprächen? Auch im privaten Leben nutzten sich die schönen Worte ab und verloren jeglichen Glanz. Farbige Träume wurden abgeernteten herbstlichen Nebeläckern. Wurden degradiert zu  Machtfragen im zermürbenden Alltag. Und so viele Jahre lagen noch vor mir.

Das sollen meine Kumpels gewesen sein? Den Highway mit der Harley verraten an eine Festung aus Schrankwand gegenüber der Couchgarnitur. Die neue Küche und eine Familienkutsche auf Kredit. Statt Live Konzert einen verordneten Sonntagsspaziergang. Zwei Männer gehen vornweg und zwei Frauen hinterher. Das Gerede um Lebensversicherungen und Karrieren. Und die Frauen hinten hatten ihre eigenen Themen. Und später beim Abendessen wurde gemeinsam über das andere Paar hergezogen gesprochen. Kleinbürgerlich doch wenigstens kleinkariert. Aber man kriegte von der Gattin noch ein Sahnehäubchen aufgesetzt. BirgitGudrunHilde hat erzählt was der HelmutGünterJürgen da wieder Kluges eingefädelt hat.
Und du? (Die Kinder schlafen nebenan ruhig in ihren Betten.)
Ich geh dann mal aufs Klo! („…weil man gar nicht so viel fressen kann wie man kotzen will“. Overkill – Daniel Wirtz)


Jörg Fauser, Hank Bukowski und alle die anderen Zwischenweltbewohner, das waren die Mitstreiter von gestern. Engel in pubertären Wirren. Musiker, die sich zugrunde richteten. Abfahrer als Vorbilder hatten ausgedient. Die berühmten Drogentoten waren ihre Wege ohne mich gegangen. Keine Ahnung, wohin meine Lebensstrasse führen würde. Mir treu bleiben und meine Ideale nicht verkaufen. Diesen Satz nicht zur schönen Parole verkommen lassen; es kostete so viel Kraft.

Theateraufführungen ersetzten Live-Konzerte. Das Geld begann, in die Antiquariate zu wandern. Es gab noch kein Internet. Dafür konnte ich auf Geschäftsreisen in den Städten durch Antiquariate bummeln. Oder in den Katalogen der Versandantiquare stöbern. Kleine Freiheiten, die vor Schlimmerem bewahren.
Lesungen besuchen. Manche Autoren persönlich kennenlernen. Kleine unbedeutende Schriftwechsel. Nach und nach immer weiter hinüber gleiten ins Land der schönen Einsamkeit. Belle tristesse. Belletristik. Die Pforten zur schönen, und vor allem ungestörten Einsamkeit standen weit offen. Weltliteratur. (1000 Werke, die man gelesen haben MUSS!, bevor man stirbt). Vergessene Autoren wieder entdecken. Gesammelte Werke. Gesamtausgabe. Kritisch kommentierte Gesamtausgaben. Lesenlesenlesen. Lexika. Regale. Meyers. Pierer. Encyclopedia Britannica.
Die Orte aufsuchen, an denen diese Autoren gelebt hatten. An denen sie begraben lagen. Die Orte der Handlungen, ihrer Werke besuchen. Nebenbei in die Sammelei gleiten. „Warum nicht, wenn man sichs leisten kann?“ (Wolfgang Neuss). Die Erstausgaben. Vorzugsausgaben. Reihen des frühen Diederichs Verlages. Buchkunst. Mappenwerke.

Durch die Arbeit in England wurde ich mit der englischen Geschichte und Literatur vertrauter. Mir fiel auf, dass viele Texte englischer Musiker die Bilder aus der Geschichte und Literatur des Landes transportierten.
Brit-Pop kam auf. Die schöne englische Sprache der Sänger. Ich konnte das us-amerikanische kaugummi verquaste Genuschel nicht mehr ertragen. Und dennoch. Es gab neben einigen anderen die Smashing Pumpkins und Rage Against The Machine. Da blieb gleich etwas hängen. Von Rage liegt noch heute das Tour T-Shirt im Schrank. Und sonst? Mars stand vor der Lebenstür und schwengte die Fahne seines Jahrsiebts in meinen Lebenslauf. Noch ahnte ich nicht, womit das kriegerische Gestirn mich herausfordern würde.

Märchen Seminare für Kindergärtnerinnen. Märchenbilder im Coaching zeigten sich als Brecheisen für versteinerte Seelen. Das Tagesgeschäft lieferte die finanzielle Grundlage für allerhand soziales Engagement. Eine wunderbare Zeit der Geldvermehrung. Kreativität und harte Arbeit zahlten sich aus. Den Grundsatz immer im Bewusstsein behalten, dass die Bedürfnisse meiner Kunden und meine eigenen in einer ökonomischen Symphonie erklingen sollen. Ungleichgewichte erzeugen Disharmonien. Ebenso im Umgang mit den Mitarbeitern. Misstöne waren zu vermeiden. Zu viele durchdrangen inzwischen meinen eigenen Alltag. Man kann nicht alles haben.

Inzwischen präsentierten mir meine us-amerkanischen Partner Pläne dafür, Parkstrasse und Schlossallee mit Hotels zu besetzen. Monopoly rulez! Ich sollte mit einem beeindruckenden Titel ein Rädchen ihres neuen Konstruktes werden. Die meisten ihrer jahrzehntelangen europäischen Partner hatten sie bereits ausgebootet. Nun war ich im Fadenkreuz gnadenloser Geldgier. Der bisherige Vertrag sah für mich schlecht aus. Der neue würde nicht besser werden. Man braucht im rechten Moment die richtigen Freunde, die kühne Pläne schmieden können. Es ist dabei wertvoll, die Geschichten zu kennen, die geldgierige Menschen gerne hören und die sie dadurch lenkbar machen. Zumindest die geschäftliche Trennung ging gut aus. Für mich. Ich feierte mit meinem Freund den gelungenen Deal und überreichte ihm, wie verabredet im Fall des guten Ausgangs meine Armbanduhr. Ich sah nicht die wirklichen Geier über mir schweben. In luftiger Höhe, lautlos und freundlich.

Die tägliche Begleitmusik lieferten Arvo Pärt,  Bela Bartok, Dmitri Shostakovich, Alfred Schnittke und Georg Friedrich Händel. Die zeitgenössische Unterhaltungsmusik liess mich kalt. Die Sammlung eines Verlages, der eigentlich garkein Verlag war, war fast komplett und füllte die Regalreihen. Viele Menschen hatten dazu beigetragen. Sechsunddreissig Meter schöner Bücher. Jedes einzelne autopsiert und auf Karteikarten exakt erfasst mit den entsprechenden Varianten. Eine Bibliographie. Ein bekanntes Literaturarchiv nahm mein Angebot an. Ich brauchte Platz. Die Luft zum Atmen war knapp geworden. Ich hatte die grossen Werke der Weltliteratur in mich aufgesogen. Engländer, Franzosen, Russen, Deutsche, Spanier, Italiener… Ich war kein Grossbürger geworden. Wir entgehen unserer Herkunft nicht. Niemand.

Ich stand auf dem zentralen Platz meines Lebens. Die Mitte der Jahre hatte ich bereits überschritten. Viele Wege führten weg von diesem Platz. Aber sobald ich einige Schritte in Richtung einer Strasse ging, erwies sie sich als Sackgasse. Überall nur Sackgassen. Zum erstenmal begriff ich den Vorteil meiner unsäglichen Erziehung. Das Leben geht immer weiter. Am Ende einer Sackgasse mag eine Mauer sein. Aber erstmal hingehen und nachschauen. Vielleicht ist dort eine Tür. Oder man kann sie überklettern. Das Land hatte ich sowieso satt. Kleinkariert und bürokratisch. Also Sackgassen abklappern.

Irgendwoher kam Yerba Brava aus den Lautsprechern. Cumbia Villera. Cumbias aus den Strassen Südamerikas. Ich lernte nebenbei spanisch. Natürlich kamen mir die Texte anfangs spanisch vor. Viel argentinischer Dialekt und die Umgangssprache der aufbegehrenden Jugend. Yerba Brava, wildes Kraut. Das brachte andere Gedanken. Und dann tat sich eine Tür auf. Weg. Weit weg. Südamerika. Ich flog hin und sah mir an, was ich machen könnte. Kam nach drei Wochen zurück und flocht Netze. Neun Monate später reiste ich aus, nach einer bombastischen Abschiedsparty.

Nach zwei Monaten stand Mars neben mir. Bei einem Cocktail, allgemeinem Small-Talk und den üblichen Fragen nach dem woher und wohin. Ich musste erfahren, dass mein Geschäftsmodell hier nicht funktionieren würde. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass man meine Produkte hier nicht importieren dürfe. Wie auch, ich ging von internationalem freiem Handel aus. Gebrauchte Ersatzteile. Ich verstand bald die Gründe, stand aber wieder in einer Sackgasse. Zuhause fast alles verkauft. Neues Leben. Zu Fuss gehen. Land erkunden. Musik hören. Bus fahren.
Willie Colon, Ruben Blades. Unglaublich stimmungsvolle Konzerte. Salsa. Aus den USofA zurückgekommen nach Lateinamerika. Salsakurs. Mein steifes Becken. Meins? Kuck nur all die europäischen Männer an in den Salsakursen und auf den Festen. Kein Gefühl für Rhythmus. Hier gabs viel zu lernen. Ich bewegte mich im diplomatischen Umfeld. Man lädt ein, man wird eingeladen.
Auf einem Rückflug wurde ich auf dem Flughafen Schipol angesprochen.
Und was machen Sie eigentlich hier?

Daraus entspann sich ein Gespräch. Am Ende hatte sich meine Vorhersage bei der Kommission des Kreiswehrersatzamtes erfüllt und bewahrheitet. Ich leistete soziale Arbeit an der Basis. Aufgrund meines Studiums erachtete man mich als befähigt für den Schuldienst. Ich war erfolgreich und fühlte mich dennoch zunehmend unwohler. Ich schob es zuerst auf die einheimische Mentalität. Dann auf meine Arbeitsbelastung. Als ich schliesslich aus zehntausendtausend Kilometern Entfernung erkannte, aus welch fantastischen Land ich komme und von dort weggegangen bin, wurde mir nicht besser.
Da half auch die Bombenstimmung auf Salsakonzerten nicht mehr. Oder das einmalige Konzert von Jethro Tull. Inzwischen hatte mein Arzt eine fortgeschrittene Höhenkrankheit diagnostiziert. Mir ging es richtig schlecht.
Ich beobachtete die Deutschen, die hier dauerhaft sesshaft waren. Die hattens drauf; verbanden die deutschen Tugenden mit den Strukturen des Landes und wurden für ihre Erfolge bewundert. Mit denen willst du lieber nichts zu tun haben. Oder die Anderen, die zeitweise hier leben. Die ihre Marotten ausleben wie die Kolonialherren vor Jahrhunderten. Ich kann seitdem das Wort Postkolonialismus nicht mehr hören. Es mögen sich die Formen geändert haben, nicht jedoch die Strukturen.
Ich musste weg. Ich war körperlich am Ende. Ich kam noch rechtzeitig wieder hier an. Ich brauchte fast ein Jahr, um wieder gesund zu werden, beziehungsweise wieder zu mir selbst zu kommen. Ich möchte diese Erfahrungen nicht missen. Weite Horizonte wurden mir geschenkt. Die Machtverhältnisse wenn der Vater eines völlig untauglichen Sohns zweiter Chef der staatlichen Telefongesellschaft ist und man dem Sohn mit einer Fünf noch ein Geschenk überreicht. Der harte Wechselkurs für (gute) Schulnoten. Meine russischen Nachbarn mit ihren Geschäften. Der Plattenladen, der wirklich ALLES hatte. Eine Nacht verirrt im tropischen Regenwald, die mein Leben nachhaltig verändert hat…

 So viel hatte ich verloren. Fast unbeschreiblich viel mehr hatte ich gewonnen.
Letzthin habe ich mein erstes Handtuch wieder gefunden. Ich hatte es viele Jahre aufbewahrt. Darauf lag ich als Säugling. Wurde damit abgetrocknet, darauf gewickelt und einmal auch photographiert. Ich habe es vorgestern in handliche Stücke geschnitten. Ich werde damit unsere Räder polieren. Der Frühling wird demnächst übers Land ziehen. Ich freue mich drauf. Und ich nehme die Dinge, wie sie kommen. Ob Sackgasse oder Autobahn.

 

(Eine Fortsetzung wird noch folgen)

 

 

 

 

 

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Musik liegt in der Luft (v)

 

 

 

Lesen: Wenig.
Hören: Punk. Zwei Boxen. The Entire History Of Punk: geht so. Besser finde ich: No thanks! The 70´s Punk Rebellion.
Essen & Trinken: Rübensuppe. Rosenkohl und dazu die beste grobe Bratwurst. Hauseigener Feigensenf. Dornfelder.
Arbeiten: Ich lasse mich treiben. Da küssen die Musen aufregender.
Sehen: „Die letzten Millionen“ (2014). Wir werden alle älter. Eine Lottogemeinschaft in einem Altenheim knackt den Jackpot. Überragende Besetzung. Der Film hält die Balance zwischen Tragik und Komik überzeugend.

 

 

Zurück aus Berlin. Ich spürte eine gewisse Freiheit nach der tagtäglich gegenwärtigen Ummauerung. Jobsuche in der BRD. Niederschmetternde Angebote. Und dafür hatte ich täglich bis zu sechzehn Stunden im Freien, in Studios und Dunkelkammern zugebracht. Um jetzt Passbilder zu knipsen und beim Verkauf von Filmen und Bilderrahmen zu beraten. Nebenbei musste ich mir Vorträge über eine brotlose Kunst anhören.
Ich hatte meine Schallplatten mit zurückgebracht. Kaum Neues dabei wegen Ebbe in der Kasse. Filme, Fotopapiere, Dunkelkammerchemie und dies und jenes saugten das monatliche Salär schnell weg. Konzerte? Da blieb vorwiegend der Genuss von Konzerten mit freiem Eintritt. Wurde in West-Berlin ein neues Lokal oder eine Discothek eröffnet, spielte da meist auch eine Band für umme. Schöne Erinnerungen an Karthago oder die Edgar Broughton Band nahm ich mit. Aus Berlin (Hauptstadt der DDR) kamen die Puhdys und spielten gelegentlich im Quartier Latin. Sonst habe ich von der Szene jenseits des Walls nicht viel mitbekommen. Bettina Wegener lief in den Frauen-WGs. Und Biermanns musikalische Darbietungen versperrten den Weg zu seinen Texten.

Punk streifte mich allenfalls. Meine Zeit der zerrissenen Hosen war schon vor Punk abgelaufen. Einige Titel sind hängengeblieben. The Clash,The Damned, Dead Kennedys, UK Subs, Sham 69, Vibrators, The Stranglers  und andere lieferten die Texte, die ich fünf Jahre zuvor gebraucht hätte.
Am kulturellen Phänomen des Punk konnte man es spätestens jetzt erkennen. In der kapitalistischen Warenwirtschaft wird jede Idee rasch verdinglicht und als Produkt in den Markt geschwemmt. Malcolm McLaren hatte sich die Sex Pistols erfunden und seine Freundin Vivienne Westwood kam zu der Zeit ganz gross raus. Sie schuf die extravaganten zerissenen Klamotten für die Zuspätkommenden, die dennoch hip sein wollten oder mussten.

Queen machten drei Alben lang Furore. Diese Alben waren richtig fetzig. Brian May erregte mit seiner polyphonen Gitarre Aufsehen. Doch dann begann der Abstieg der Band ins banal operettenhafte. Junge Gitarristen kamen nach oben. Es wurde Mode Voodoo Chile mit drei zusätzlichen Pralltrillern nachzuspielen. So entzauberten die Kinder ihren Papa Hendrix. Sein Nimbus überlebte vielleicht gerade deshalb, weil jüngere Helden am Griffbrett noch ganz anders zaubern konnten als ihr Vorbild.

Zweimal im Jahr war der grosse Aufmarsch in der WG. Eine Nacht lang Rockpalast vom WDR. Drei Konzerte am laufenden Band. Ende der 70er schwappte nochmals eine kurze Welle Rock´n´Roll auf. American Graffiti. Rudolf Rock und die Schocker mit Sexy Hexy am Mikrofon oder Long Tall Ernie & The Shakers aus Holland. Inzwischen bildeten sich immer neue musikalische Stilrichtungen heraus. Die Neue Deutsche Welle brachte uns Ideal. Aber Annette Humpe und meine grünen Augen. Es wäre ein vermessener Traum gewesen. Vieles war spassig an der NDW. Von Dauer war es nicht.

Was mich mehr interessierte war der sogenannte Post-Punk. Johnny Rotten von den Sex Pistols hatte sich in John Lydon zurück verwandelt und Public Image Ltd. (später P.I.L.) gegründet. Ihr Lied Religion packt mich noch heute. Joy Division besangen in einer eleganten Kühle die Niedergänge des Lebens. Sie liessen damit einige meiner vormaligen Helden verblassen. Der charismatische Sänger Ian Curtis starb bereits mit 24 Jahren. Vormals waren wir jung  und die Nachrichten ergriffen mich noch. Damals: Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin oder Jim Morrison. Das war ihr Risiko. Wenn sie sich ruinieren wollten.


Unter mir spulten sich inzwischen hunderttausend Kilometer Asphalt im Jahr ab. Vorbei die Zeiten mit Frack und Gamaschen. Lindenberg versank langsam in seiner eigenen Aura. Ich trug schwarze Lederhosen, Nadelstreifenjackett mit passender Weste in dunklem Anthrazit. Darunter ein fein gesteiftes weisses Hemd. Ultravox. Talking Heads. Im Freundeskreis änderte sich der Lebensstil. Die Möbel und Einrichtungsgegenstände der Designer, von denen wir Jahre zuvor noch träumten, waren greifbar geworden. Viel Geld war mittlerweile in Bewegung. Harte Arbeit tagaus tagein. Familienleben ist soziale Arbeit. Du willst deinen Kindern eine ursprüngliche Kindheit ermöglichen. Dann stell den Fernseher weg. Die lauten Konzerte und Musikmixe liefen ab jetzt im Auto. Die kleine Werkstatt ist fast leer; die italienischen Motorräder sind verkauft.
Spät abends lesen. Bis in die Nacht. Kleine Fluchten.
Pete Frame „Rock Family Trees“. Da machte sich einer die Mühe und die Freude und zeichnete die Wege von Musikern und Bands auf. So viele neue Entdeckungen eröffneten sich mir. Mich interessierten die vielen Kollaborationen zwischen den Musikern, deren Bands ich mochte. Zahlreiche neue Formationen für eine oder zwei Platten. Auslöser waren Phil Collins, John Cale und der grosse Brian Eno von Roxy Music. Die Canterbury-Szene mit vielen jazzigen Elementen. Allen voran SoftMachine. Auf der ersten SoloLP von Robert Fripp (King Crimson) sangen Peter Gabriel, der Genesis verlassen hatte und Peter Hammill von der Van der Graaf Generator. Hammills Texte als Rettungsringe im Maelstrom. Und die nebenberufliche Ausbildung zum Märchenerzähler. Märchen für die Kinder und als Handwerkszeug  in der Arbeit mit Erwachsenen. Kleine Sonnenstrahlen im Hamsterrad

Mirror Images (Peter Hammill)
If I’m the mirror and you’re the image
Then what’s the secret between the two
These „me“s and „you“s, how many can there be?
Oh, I don’t mind all that around the place
As long as you keep it
Well away from meI’ve begun to regret
That we ever met between the dimensions
It gets such a strain
To pretend that the change is anything but cheap;
With your infant pique and your angst pretensions
Sometimes you act like such a creep

And now I’m standing in the corner
Looking at the room and the furniture
In cheap imitation of alienation and grief
And now we’re going to the kitchen
Fix ourselves a drink and a cigarette
(Getting no closer to being the joker or thief)

Still, I reflect
This nervous wreck who stands before me
Can see as well
Can surely tell that he’s not yet free;
He can turn aside, but can no more ignore me
Than know which one of us is he
Than tell what we are going to be
Than know which one of us is me

 

 

(wird fortgesetzt)

 

 

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Musik liegt in der Luft (iv)

 

Lesen: Wenig.
Hören: Achim Reichel ist am vergangenen Sonntag 80 geworden. Als Ferngratulation läuft ein bunter Reigen seiner Lieder aus den vergangenen 60 Jahren.
Essen & Trinken: Der Jahreszeit angemessene Suppen. Ich liebe gute Suppen. Dazu ein Butterbrot. Getränke dazu? Je nachdem.
Arbeiten: Für einen solchen Bericht wie diesen benötige ich rundherum etwa sechs bis acht Stunden.
Sehen: „Werk ohne Autor“ (2018). Eine verfilmte Künstlerbiografie angelehnt an den Lebensweg von Gerhard Richter. Ebenso faszinierend wie erschreckend. Der Film zeigt die irre Achterbahn eines Menschenlebens.

 

Geschafft! Die „mittlere Reife“. Klassensprecher. Schulsprecher. Kurz vor Schuljahresende kam der Klassenlehrer zum Unterrichtsbeginn in Begleitung einer Dame und einiger Herren. Die stellten sich vor. Sie kamen von verschiedenen Unternehmen aus dem Umkreis. Wir Schüler, demnächst mit der Mittleren Reife geadelt, wurden eingeladen, in Ihren Unternehmen unsere Lehren zu beginnen. Das waren noch Zeiten. Ich ging mit einigen anderen zu einem international tätigen Unternehmen.
Kleine Rundfahrt im Werksgelände. Anschliessend in einem Konferenzraum ein kurzweiliger Vortrag bei Kaffeestückchen und Limonade. Vor jedem von uns lag ein Ausbildungsvertrag. Fertig zur Unterschrift.

Ich habe keinen Vertrag unterschrieben. Der Realschulabschluss berechtigt zum Besuch einer weiterführenden Schule. Ein neuerlicher Versuch. Diesmal in der Kreisstadt. Soweit der äussere Rahmen.

Ich fuhr mein erstes Moped. Ein Kofferwort aus Motorrad und Pedal. Man stelle sich ein Damenrad mit dickeren Rahmenrohren und breiteren Reifen vor. Unten hing ein kleines Motörchen zwischen den Pedalen.
Die Werbung versprach dem Käufer Mitte der 1950er Jahre, nach dem Zitat, „Ein rassiges „Vaterland“ – Moped mit dem bewährten Motor „Sachs 50″ mit 2 Gängen und 1 Kette zum Preise von DM 548,- komplett franko. Zulassungs-, steuer- und Führerschein-frei! Eins der formschönsten und besten Mopeds, das man nicht überall findet!“ Dabei sahen diese Zweitakt-Gurken aller Marken, allesamt gleich altbacken hässlich aus.
Inzwischen waren mehr als anderthalb Jahrzehnte ins Land gegangen. Meine Mühle war natürlich aufgemotzt. Monzablau lackiert angestrichen, blaue Griffe, langer metallicblauer Bananensattel und eine entsprechend hohe Sissy-Bar. Auf dem langen Sattel konnte die Freundin mitfahren. Dann musste man jedoch mit den Pedalen mitstrampeln weil das Motörchen asthmatisch in die Knie ging.
Die erste Freundin. Königskinder können sich entgegen der bekannten Ballade dennoch finden. Aber zwei, durch chaotische wie dumme Eltern, verstörte Jugendliche. Es konnte nicht gutgehen mit uns beiden zwischen Pubertät und Erwachsenwerden. Du hattest dich für den schnellen Abfahrtslauf mit Alkohol und Tabletten imprägniert. Und nun liegst du schon fünfzehn Jahre draussen auf dem Friedhof. Ich habe mich für meinen Weg und das Leben entschieden.

Im Radio liefen neue Formate. Ganz wichtig war mir im SWF der POP Shop mit Frank Laufenberg. Anfangs wurde täglich von 12:03 bis 15:00 Uhr gesendet. Wechselnde Programmschwerpunkte weckten beispielsweise auch das Interesse für Jazz. Mittwochs, 13:00 war mein Pflichtprogramm. Da lief die Sendung „Für wen singen wir? – Antihits aus Deutschland“. Neue Namen und ihre Lieder lernte ich kennen. Reinhard Mey, Hannes Wader, Hein&Oss, Franz-Josef Degenhardt oder Dieter Süverkrüp um nur einige zu nennen. Und meine Götter schlechthin: Ton, Steine, Scherben.

In der Schule hatten wir einige jüngere Lehrer, die unsere Diskussionslust mit provokanten Thesen befeuerten. Und so dauerte es nicht lange, und in meinem Kopf „sprudelte viel rote Brause“ (V.Rebell). Volker Rebell moderierte im HR Teens Twens Top Time. Die Sendung wurde später in „T hoch 4″ und schließlich in „T4“ umbenannt. Unter uns kursierten zahlreiche Markensampler. Die grossen Plattenfirmen hatten gegen Ende der 60er Jahre erkannt, welch profitsprudelnder Quell durch die Popmusik entstand. Um die unter Vertrag stehenden Bands bekanntzumachen, wurden KompilationsLPs zum halben Preis einer regulären LP verkauft. Appetithäppchen. Um anschliessend die Alben eines Künstlers zu verkaufen. Andererseits lernte man schnell verschiedene Bands und Musikanten kennen. Hier sind einige Cover abgebildet.

 

 

 

Der Wind in jener Zeit wehte noch aus anderen Richtungen. Wir haben uns alles hin und her ausgeliehen und verliehen. Freilich gab es die ersten Schnorrer. Die alles nur haben wollten, ohne je zu geben. Es ist für manchen von uns zum Lehrstück geworden. Für spätere Jahre. Als dann die Drücker in den WGs auftauchten. Die für ihre Sucht alles klauten, was nicht in die Wand gedübelt war. Da ich nach der Schule arbeitete, konnte ich mir ausser einigen KompiLPs auch noch richtige LPs kaufen.
Es gab damals in Mainz einen roten Laden. Quer gegenüber des altehrwürdigen Musikverlages Schott. In diesem Laden liess ich manche DM liegen. Dort gab es Platten, Bücher, Plakate und Texthefte mit Gitarrengriffen. Endlich Texte verstehen können. Die Platte Ich hatte mir noch soviel vorgenommen von Hannes Wader hatte ich ebenfalls dort gekauft. Ganz unten am Ende dieses Berichtes sieht man das Cover der Platte. Das Foto darauf ist vor dem roten Laden im Weihergarten aufgenommen worden.

Inzwischen war das eigene Musikarchiv vielfältig angewachsen. Viele mir ehemals wichtige Bands hatten an Strahlkraft verloren. Die meisten Beatbands gehörten dazu. SamplerLPs und natürlich auch die Radiosendungen zeigten Wirkung. In meinem Umfeld spalteten sich die musikalischen Interessen. Da entstand die kleine Gruppe, die Musikzeitungen abonniert hatten und viele Konzerte besuchten. Andere kauften vorwiegend Platten oder schnitten Radiosendungen mit, einfach, möglich grosse Sammlungen zusammenzutragen. Ich handelte (noch) unbewusst nach dem gleichen Muster wie auch sonst in meinem damaligen Leben. Ich nahm was kam. Gefiel mir eine Platte und ich hatte das Geld dafür, so kaufte ich sie. Fand ein Konzert statt und ich las an diesem Tag lieber, dann lies ich es eben sausen. Ich mag mich nicht daran erinnern, was ich dadurch versäumt habe. Andererseits habe ich trotzdem sehr viele Konzerte live erlebt. Am häufigsten wahrscheinlich Rory Gallagher und Peter Hammill. Am beeindruckensten war für mich jedoch das 2nd British Rock Meeting. Volles Rohr die grössten Namen. Da war zu verschmerzen, dass einige Namen dort nicht auf der Bühne gestanden und musiziert haben. Das gehörte selbst bei kleineren Festivals zum Geschäft. Zugkräftige Namen auf den Plakaten sollten die kartenverkäufe ankurbeln.

Mein Geschmack war breit gefächert. Ich legte durchaus nach André Heller oder Witthüser & Westrupp eine Platte von Frank Zappa auf. Protestsongs standen ebenso auf der privaten Hörliste wie (Folk)Rocker oder der sogenannte Progressive Rock.
Die ersten Alben von King Crimson, Emerson Lake & Palmer, Yes, Renaissance, Procol Harum, Camel, Gentle Giant, Genesis, Jethro Tull oder Pink Floyd eröffneten weite Horizonte. Hervorheben will ich noch die ersten Alben von Roxy Music und Steve Harley´s Cockney Rebel.  In die progressive Richtung gehören
natürlich auch deutsche Bands. Ich nenne Guru Guru, Birth Control, Triumvirat, Karthago, Walpurgis, Pell Mell, Amon Düül II, Popol Vuh neben den vielen anderen, von denen manche nur schillernde Eintagsfliegen waren.

Nachmittags sassen einige Kumpels beisammen und hörten gemeinsam Musik. Wir tauschten uns aus über unsere Musik. Der eine oder andere kümmerte sich bereits um den besseren Sound. Stereoanlagen wurden preiswerter und damit nach einem Ferienjob auch erschwinglich. Schallplatten wurden dann vereinzelt nass abgespielt (Lenco-Clean!). Die Nachmittage in Zimmern oder Kellern verhinderten das Pflichtprogramm. Ich war noch Schüler. Zwei Schuljahre im Gymnasium waren mir geschenkt. Der Hausmeister ass für sein Leben gerne Wild. Mein Vater hatte eine Jagd gepachtet. 1+1=2. Klassenarbeiten wurden im Büro des Hausmeisters abgezogen. Alles klar? Obendrein hatte er uns einen Schlüssel zu seinem Kellerraum überlassen. Dort spielten wir Skat oder würfelten. Während des Unterrichts. Wie gesagt, das Karussell des Verweises drehte sich immer schneller. Was solls? Die Welt ist gross.


Diesmal halfen keine Tricks. Meine Schulzeit wurde durch meine Leistungen beendet. Ich ging weiterhin, nun jedoch ganztags, beim gleichen Betrieb arbeiten. Ich überlegte. Und ich bewarb mich. Von sechshundert Bewerbern wurden dreissig aufgenommen. Zwei Prüfungen an zwei Wochenenden in Berlin. Ich berechnete meine Chancen nicht. Ich nahms wie es kam. Ich hatte es als Kind bereits gelernt. Das Leben geht immer weiter. Das war inzwischen gesichertes Wissen geworden. Trotz aller Tiefschläge. Und wenn es richtig arg über mich kam, war da immer noch die Musik. Die teilweise dunklen Texte von Peter Hammills Van der Graaf Generator. Balsam. Auch österreichische Vokalartisten salbten den Niedergeschlagenen. Das hat zuverlässiger geholfen als die leichte Musik der us-amerikanischen Westküste. Neil Young, Hot Tuna oder Grateful Dead waren gut; beim Leiden hingegen waren sie ein sehr schwacher Trost.
Vom SR in Stuttgart wurde seit Jahresbeginn nachmittags Point mit dem Moderator
Peter Kreglinger gesendet. Mit der einfachen Antenne meist nur mit Störungen zu empfangen. Aber pointierter als der Pop-Shop, der nun abends gesendet wurde.
Ich hatte keine feste Freundin, nur etliche zum Reden. Schliesslich war ich der Junge, der so prima zuhören konnte. Ein Softie, bevor es den Begriff gab. Dennoch hatte jemand ernsthaft ein Auge auf mich geworfen. Die Bundeswehr. Meine Begründungen, warum ich 1. den Kriegsdienst mit der Waffe verweigern und darüber hinaus 2. auch keinen Ersatzdienst leisten wollte, wurden von der ehrenwerten Kommission dreimal rundweg abgelehnt. Dafür, so argumentierte ich letztlich, würde ich einen sozialen Dienst gerne ableisten, wenn dieses System mich im Alter von fünfzig aussortieren würde. Dass es dann tatsächlich fast genau so gekommen ist, wer hatte das ahnen können. Also mit den Augen das tun, wofür man sie im Kopf hat. Nach vorne schauen.
Aus Berlin kam die Zusage mit dem Datum des Beginns der Ausbildung.

(wird fortgesetzt)

 

 

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Musik liegt in der Luft (iii)

Lesen:
Hören: Lieder aus dem Archiv und bei Juhtjuhp, um den Bericht aus den Quellen zu verifizieren.
Essen & Trinken: Die weltbesten hausgemachten Frikadellen (ohne alte Brötchen drin!) und Schmorkohl. Bier dazu.
Arbeiten: Die alten Kasperlepuppen mit den geschnitzten hölzernen Köpfen und den schönen Kleidern, die mehrere Jahre von einer ungenutzten Vorhangstange das Geschehen in der Stube beobachteten, müssen entstaubt werden.
Sehen: „Vom Lokführer, der die Liebe suchte.“ (2018) Fast ein Stummfilm. Die Bilder sprechen für sich. Eine schlichte, ergreifende Geschichte. Von den Protagonisten ebenso ergreifend dargestellt.

 

 

Kein Mensch ahnt, was ihn in einem neuen Jahr erwarten wird. Hätte mir jemand Andeutungen darüber gemacht, was mir in jenem Jahr entgegenkäme, ich hätte eine abfällige Antwort parat gehabt.
Mein Grossvater hatte die HörZu im Abonnement.  Darin durfte ich „Original und Fälschung“ ausfüllen. In der oberen Hälfte der Seite die Abbildung eines Gemäldes und darunter die Kopie mit etlichen Fehlern. Fernseh- und Radioprogramm waren noch nicht interessant. Das änderte sich erst, als wir die Zeitschrift
TV Hören und Sehen wöchentlich in Haus bekamen. In den Programmzeitschriften war das Radioprogramm abgedruckt. So sass ich nachmittags vor dem Empfänger und drehte am Sendesuchrad.
Schulaufgaben erledigte ich, wenn überhaupt, nur noch sporadisch. Die Musik. Meine Fantasien zu den Liedern. Kompensationsleistungen einer missratenen Kindheit. Und dazu die Irrungen und Wirrungen der Pubertät. Ich las nicht mehr. Halt, das stimmt nicht ganz. Pflichtlektüren des Unterrichts schon noch. Und ein Wörterbuch Englisch. Zum einzig wichtigen, dem Textverständnis der englischen Songs. Herrje, was wusste ich damals von den Textbezügen der Lieder zur englischen Geschichte und Literatur. Eigentlich nichts. In der Schule wurde über Musik gesprochen. Kennste die neue von? Hast du das schon gehört? Meine Schwester war auf einem Konzert von…
Nebenbei entstanden neue Vokabeln für eine eigene Sprache. Scharf. Die neue Single von den Stones ist ne ganz scharfe Sache. Wer von uns sprach noch von den Rolling Stones? Das sind die Stones, Sportsfreund. Als würde man Keith Richards persönlich kennen. Mich schärfte alles, was scharf abging. Musikalisch zumindest. Das Gegenteil von scharf war matt. Schlager waren matt. Die Steigerung dazu ätzend.
Erste Hörversuche mit
Radio Luxemburg. Mir gefielen die dauernden Störgeräusche nicht. Musste man aber hören weil es ein Sender mit scharfer Musik war. Und weil am nächsten Morgen wieder drüber gesprochen würde vor dem Unterricht, in den Pausen und nach dem Unterricht.

Vor den Osterferien sind meine Eltern vom Direktor des Gymansiums eingeladen worden. Eine ganz matte Sache. Meine Mutter ist hingegangen. Neuerliche Gefährdung der Versetzung bedeutete in meinem Fall das Ende auf dieser matten Schule. Mir wars eigentlich egal. Mir war überhaupt das meiste egal. Ätzend. Der Direx hatte einen scharfen Vorschlag. Jetzt an Ostern sofort die Schule verlassen, um im Heimatort die Realschule zu besuchen.
Dann nimmt ihr Sohn die Versetzung ins nächste Schuljahr einfach so mit; er kommt schliesslich von der Höheren Schule. So wurde es mir erzählt. Und so wurde es gemacht. Ich verabschiedete mich von keinen Mitschülern. Ich nahm die schöne Erinnerung an die letzten Musikstunde mit. Unsere Musiklehrerin liess die Langspielplatte von Blind Faith laufen.

Ich blieb zwei Tage zuhause. Am dritten war wohl alles eingetütet und ich betrat pünktlich zum Unterrichtsbeginn die Realschule. Der Klassenlehrer stellte mich vor. Auch hier war das Schülerleben musikalisch umrankt. Der Stil war jedoch anders. Irgendwie matt. Da gabs noch Buben, die sich den Pausen ein Kämpfchen lieferten. Ätzend. Mein Schwein pfeift. (eine neue Redewendung!). Im letzten Schuljahr haben wir Gymnologen uns in den Pausen auf der Toilette getroffen. Für kühne Reden. Zur Verabredung eines Schbaernacks im Unterricht. Und obendrein für eine schlanke Sportzigarette. Danach gings geschärft in den Unterricht. Und hier, diese unterbelichteten Dorfbuben. Aber es dauerte nicht lange. Das Jugend ist schnelllebig. Auch hier auf der Realschule. Dieselben Rituale wie zuvor. Ich fühlte mich zuhause. Schuljahresende. Scharfe Versetzung. Geschafft.

Die grossen Ferien. Vom 17. Juli bis zum 3. September August. Zwei Ereignisse warten auf mich, die alles verändern werden. Oberscharf. Zweimal drei Wochen, denen ich seit Monaten schon entgegen fieberte. Wichtig waren mir die letzten drei Wochen. Aber zuerst für drei Wochen auf den Bau. Hartes Leben für einen Schüler. Zwischen scharf und ätzend war alles dabei. Aber: ich habe wichtige Erfahrungen für mein Leben gemacht. Heute weiss ich es, damals ahnte ich es nicht.

Dann war es endlich soweit. Drei Wochen England. Scharf. Ohne Eltern. Oberscharf. Etwa zwanzig magere Pfadfinderbuben mit ihren Rucksäcken am Bahnhof. Eine lustige Fahrt nach Oostende. Nachts die Überfahrt nach Dover. Die Einreise mit all den Kontrollen. Damals, wie heute wieder. Währung umrechnen. Und aufpassen, denn hier fahren euch die Autos von der anderen Seite übern Haufen. Matt, überaus matte Angelegenheit.

Die erste Woche im Gilwell Park im Norden Londons. Pfadfinderleben wie wir es kannten. Zelte, Lagerfeuer, Fahrtenlieder. Mich begeisterten die Unterschiede zwischen den englischen Ausrüstungen, den Liedern, den Ritualen und unseren. Ich kam mir dabei manchmal altmodisch vor. Benzinkocher statt Lagerfeuer. Matt eben. Für mich endete in dieser Woche meine Kindheit.
In der zweiten Wochen waren wir Gäste in englischen Familien. Ich freute mich darauf, denn ich hatte im Gilwell Park Kontakt zu einigen englischen Boy Scouts geknüpft. Ich hatte natürlich Pech und kam zu einer Familie, deren Sohn gerade in die Gruppe der ganz kleinen Buben gekommen war. Jimmy, sit still, don´t be a naughty Boy. (Ich hörs noch heute). Absolut Ätzend. Aber ich erfuhr etwas anderes. Interesse, an mir und meinen Interessen. Das kam so.
Wir durften tagsüber durch die Stadt streifen. Einzige Bedingungen: auf den Verkehr von links aufpassen und und immer mindestens vier Jungs zusammen. Man stelle sich das heute vor. Vier Buben auf den Strassen Londons. Und was wir alles gesehen und erlebt haben. Oberscharf. Versteht sich, dass nie irgendetwas passiert ist.

Ich war in der Carnaby Street. Die Leute dort trugen irre (neues Wort!) Klamotten. Lange Haare und kurze Röcke. Und zwischendurch Fish&Chips. London Underground hin und her. Wie haben wir uns bloss zurechtgefunden? Beeindruckend war das Imperial War Museum. In einem Laden in Soho habe ich mir eine Langspielplatte gekauft. Donovan – Universal Soldier. Meinen Besuch des Kriegsmuseums und die Platte von Donovan nahm mein Gastgebervater abends zum Anlass, um mit mir darüber zu sprechen. Er legte die Platte auf und machte mir durch Erklärungen manche Texte verständlich. Ein Erlebnis besonderer Art für mich. Zuwendung. Einfach Sprache. Der Mann bemühte sich, dass ich ihn verstehen konnte. Ich kann die Stube, die wulstig schweren Sessel und das Kaminfeuer aus dem Gasbrenner noch heute vor mir sehen. Menschliche Wärme ist unvergesslich.

Die dritte Woche fand wieder pfadfinderlich statt. Zeltleben. Alles, wie man es kennt. Merkwürdig, wie diese dritte Woche bei vielen der damals Beteiligten ins Vergessen versunken ist. Vor einigen Jahren waren einige englische Freunde von damals angereist, um mit einigen von uns das Jubiläum unserer Begegnung zu feiern. Selbst von den unseren englischen Freunden wusste niemand mehr genaueres über die Ereignisse in dieser dritten Woche zu sagen. Nicht mal den Ort erinnerten wir. Unsere Erklärungen bestanden darin, dass wir deutschen Buben wahrscheinlich so überwältigt von London waren, dass das Danach verschüttet worden ist. Und die Engländer hatten gegen die vielen Vorurteile und heftige Kritik gegenüber den Hunnenkindern zu kämpfen. Daran waren ihre Erinnerungen noch sehr lebendig.
Kuck dir nur die geflochten Knoten an ihren Halstüchern an. Hitler Youth.
Na und,  unsere Boys haben doch die gleichen Knoten. …
Im Jahr darauf waren wir die Gastgeber. Glückliche Jugendtage.

Schon auf der Rückfahrt brannten wir darauf, unseren älteren Pfadfindern von unseren Abenteuern erzählen. Wie wir durch London gezogen sind. Madame Tussauds. Das aufregende Geschepper und Geklapper der alten Londoner U-Bahnen. So erinnerten wir uns gemeinsam und steigerten uns dabei. Bei unserer Ankunft sind wir nicht nur in Soho gewesen, sondern wir hatten Jack the Ripper auch persönlich gegenüber gestanden. …

Für samstagsabends war eine Zusammenkunft in unserem Pfadfinderheim geplant. Ich kam an und vor dem alten Gebäude standen einige Jungs meiner Gruppe. Im Erdgeschoss befand sich allerlei alten Sachen der Kirchengemeinde und im Obergeschoss waren unsere beiden Räume. Ein langer Schlauch.
Und warum steht ihr noch hier unten?
Bist du matt oder taub?
Musik.
Ja, aber von oben.
Wir gingen hoch und waren entsetzt. Laute Musik. Stampfende Rhythmen. Kreischende Gitarren. Und zu alldem unsere älteren Vorbilder in Blue Jeans. Die Entweihung unseres Heims; nein, ihre Zerstörung. Alles vorbei. Unsere Aufregung war echt und tief empfunden. Wir zogen uns zurück. Die Älteren lachten und warfen uns Sprüche hinterher. Wir diskutierten im Hof. Nach Hause ging keiner von uns. Irgendwie hatte das verruchte Treiben im Obergeschoss auch eine starke Attraktion.

 

Das neue Schuljahr begann. Vier Wochen nach dem schockierenden Ereignis feierten wir selbst in unserem Pfadfinderheim unsere erste Party. Jeder brachte ein paar Platten mit. Die älteren liehen uns herablassend auch einige ihrer Platten. Hinter dem Radau stampfender Rhythmen und kreischender Gitarren standen Namen wie Blue Cheer oder Jimi Hendrix. Die Party verlief erfolgreich, sodass uns der Pfarrer, der nebenan wohnte, weitere Parties mit weihevoller Geste genehmigte. Von da an, nahm die Entwicklung Fahrt auf. Dass bei uns im Gegesatz zu den Ältern selbstverständlich Mädchen anwesend waren, schien er nicht bemerkt zu haben.
Ein Freund hatte eine ältere Schwester. Die hatte schon einen Freund, mit dem sie im Kino war. Dadurch erweiterte sich der Wortschatz des Freund. Das Verb fummeln hielt Einzug und wurde verwendet, ob es passte oder nicht.
Kannste mir mal die neue Platte von Cream ausfummeln. Womit ausleihen gemeint war.
Fummel doch mal ne Kippe rüber.
Ich hab nur noch die Letzte.
Stell dich nicht so an. Dann fummel mir wenigstens ne Halbzeit.

Zur Sache Schätzchen.

Neue Namen und deren Platten kamen über mich wie ein warmer Landregen. Stetig tröpfelnd. Durch stetiges Ver- und Ausleihen entstand ein fantastischer musikalischer Kosmos.

Spontan fallen mir ein: Creedence Clearwater Revival, Love Sculpture, Amon Düül, Bob Dylan, The Troggs, The Move, The Flock, Herman Hermits, King Crimson, Emerson Lake & Palmer, The Petards, Fleetwood Mac, Janis Joplin, Procol Harum, The Who, Nice, The Byrds, The Kinks, Ten Years After, Soul Caravan (Xhol), Dave Dee Dozy Mich & Tich, Yes, Eric Burdon/Animals, Graham Bonny, Family, Julie Driscoll, The Doors, David Garrick, Santana, Pink Floyd, Traffic, Leonrad Cohen, Led Zeppelin, John Mayall / Bluesbreakers, Steppenwolf, The Rattles, Spencer Davis Group, Manfred Mann… und Frank Zappa /Mothers of Invention,,,

Und ausserdem Easy Rider. Der Film.
Ich kauf mir später eine Maschine und dann düse ich den Highway runter. Wie oft habe ich diesen Satz gehört? Keiner in meinem Umfeld, der ihn ausgesprochen hat, hatte diesen Jugendtraum jemals realisiert. Es war ja auch noch weit bis zur ersten Schrankwand und Einer-Zweier-Dreier Sitzmöbelgarnitur. Und Gardinen an Fenstern.
Wir lebten jetzt und nahmen das alte Hercules Moped von Reini, der machte den Rider. Ein cooler Tramper stand auf dem Bürgersteig  am staubigen Strassenrand. Die langen Haare standen millimeterweit über dem oberen Rand seiner Ohren. Er hielt den Daumen den tragbaren Cassettenrecorder in die Luft: vollaufgedreht. Reini kam aus der hundert Meter weiten Ferne den
Highway unserer Hauptstrasse schnurgeradeaus auf uns zu. Vor der leichten S-Kurve streckte Reini das linke Bein so echt harleymässig raus und wendete die schwere 50ccm Maschine in weitem Bogen. Der Tramper stieg hinten auf und die beiden Desperados entschwanden knatternd bis zur nächsten Querstrasse. Aus dem kleinen Lautsprecher quäkten dazu die Byrds: Wasn´t born to follow ~(hier zum Vergleich das matte Video aus dem Film).
Das Problem bestand nun darin, die Fahrkunst mit der Musik zu synchronisieren. Das machte viele Versuche nötig. Wenig Verständnis für unsere Versuche hatten entweder die Anwohner oder die Polizei. Oder beide. Von den ständig leeren Batterien des Cassettenrecorders ganz abgesehen.~~~ .

Das Leben war eine fummelige Sache. Aber immer musikalisch umrahmt. Drei Sampler werden zu Wegweisern: That´s Underground, The World of Blues Power und Blues News. Einmal musste ich mit meiner Mutter in die nahe Stadt. In einem Kaufhaus erledigte sie ihre Besorgungen, derweil ich mich in der Schallplattenabteilung tummelte. Sie stand plötzlich neben mir. Ich hielt eben Led Zeppelin I und II als Doppelabum in der Hand.
Wenn ich die haben könnte…
Sie schaute kurz, nahm mir das Album aus der Hand, ging zur Kasse und bezahlte. Ich glaubte in diesem Moment tatsächlich, dass sie das Album für sich gekauft hätte. Sie schenkte es mir. Schon bald danach kam ein zweites Doppelalbum ins Jugendzimmer. The Jimi Hendrix Experience – Electric Ladyland. Auf dem Cover das schöne Portrait von Jimi Hendrix, Mitch Mitchell und Noel Redding.

Wohin das führen würde?
Ich weiß, es wird böse enden.“

 

(Fortsetzung folgt)

 

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Musik liegt in der Luft (ii)

 

Lesen: Christian Penning: Bike History. Die Erfolgsstory des Mountain Bikes. So werden Massen zu Konsumenten gemacht, die sich dann frei fühlen. Auch in diesem Bereich. Und der Hype um die E-Bikes sind nur eine weitere Steigerung.
Hören: Lieder aus dem Archiv und Juhtjuhp, um den folgenden Bericht Material aus den Quellen zu bereichern.
Essen & Trinken: Burgundische Zwiebelsuppe. Trockener Riesling.
Arbeiten: Literatur aussortieren für öffentliche Bücherschränke. Die Auswahl fällt schwer. „Eine Arme sollte er nicht und eine Reiche wollte er nicht.“ So heisst es im Märchen vom Königssohn, der eine Auswahl treffen sollte und wollte.
Sehen: „Lenin. Weg in den Terror.“ Eine Doku, wahrscheinlich zum 100. Todestag. Bei historischen Dokumentationen überprüfe ich die sprechenden Historiker grundsätzlich. Man sollte wissen, aus welcher Richtung man informiert wird.

 

The Beatles. Die Platte spielte ich im Musikmöbel der Eltern ab. In dauernder Rotation. In der Schule die ersten Englischstunden. Die paar Wortkrümel reichten nicht, um die Liedtexte zu verstehen. Dazwischen liefen weiterhin die deutschen Schlager, die vorhanden waren. Und immer wieder, mehrmals am Nachmittag die LP der Beatles. Ähnlich wie in der Kindheit mit den Tirolern, konnte ich endlich die Lieder der Beatles mitsingen – na ja, zumindest phonetisch. Der Anfangsakkord von A Hard Day´s Night und die Ansage von Any Time at all haben selbst heute noch eine gewisse Impulskraft für mich.

Inzwischen durfte ich samstagsabends vor dem Fernsehgerät zuschauen. Hans-Joachim Kulenkampff. Er moderierte die Quizsendung Einer wird gewinnen (EWG) mit Kandidaten aus verschiedenen europäischen Ländern. Zwischen den Rätseln wurden Musikauftritte präsentiert. Und da lernte ich sie kennen. Freddy Quinn. Karel Gott (die Daschen voller Gääld). Heidi Brühl. Das Medium Terzett. Dorthe (Diese Frau hat mein Bild von Düsseldorf für immer festgeschrieben). Mireille Mattieu. (Der ganz in weisse) Roy Black. Manuela. Rex Gildo. Das skandinavische Dreigestirn: Wencke Myhre, Gitte und Siw Malmquist. Howard Carpendale. Vicky Leandros.  Langweilig und damit zukunfstprägend waren für mich die gesanglichen Beiträge von, und einer von ihnen kam fast immer dran, von Rudolf Schock oder Ivan Rebroff. ABER.
Aber in EWG oder einer anderen Show im ZDF sind auch andere Interpreten aufgetreten. Und die haben mich beeindruckt. France Gall sowieso (Schoolboy Love!). Die wunderschöne Francoise Hardy (was heisst Schoolboy Love auf französisch?). Daliah Lavi und Chris Andrews. Neben anderen Vokalartisten.

Chris Andrews. Yesterday Man. Das wars. Ich bin ihr Gesternmann. (?) – was immer das bedeutete. Dieses Lied wurde meine erste Single. Meine Weihnachtsgeschenke waren, wie gehabt Bücher und – Ta Ta Ta! ein Dual P410 Kofferplattenspieler von den Paten. (Die verlinkte Seite ist für Recherchen interessant und sei hiermit empfohlen). Immerhin hatte ich ja bereits eine grosse und eine kleine Platte. Irgendwann, ich vermute Anfang Januar, brachte der Postbote noch einen Nachschlag. Zwei Singles. Hörspiele nach der Fernsehserie „Fury„. Rückblickend denke ich manchmal, dass diese metamorphosierenden Übergangszeiten geradezu mystische Erlebnisse bereithalten. In Kinder- Jugendzeiten ganz besonders.

Inzwischen hatte der grosse Bruder meines Schulfreundes bereits einige Langspielplatten erhalten. Ich erinnere mich an The Byrds – Mr. Tambourine Man, The Walker Brothers – Introducing the Walker Brothers und ein Album der Beach Boys. Darauf war der Titel Barbara Ann. Wenn wir im Wohnzimmer der Familie spielten, liefen nebenbei die Platten. Ich stand dabei irgendwie dazwischen. Zwischen den Spielen und der Musik. Ich konnte mich auf nichts von beidem richtig konzentrieren. Ein Phänomen, das mich bis heute begleitet. Richtig konzentrieren kann ich mich nur jeweils auf eine Arbeit. Insofern interessiert mich Zen, Multitasking hingegen finde ich keineswegs erstrebenswert. 

Inzwischen hatte ich zuhause für mich dann doch die beiden LPs von James Last und Herb Alpert & The Tijuana Brass entdeckt. Herb Alperts LP mit der auffälligen Hülle. „Whipped Cream & Other Delights“ (s.u.). Das mit der Schlagsahne habe ich erst einige Zeit später realisiert. Inzwischen habe ich eine kleine Sammlung von etwa zwanzig Plattencovern, die das Original von Herp Alpert in jeweils individueller Gestaltung zitieren.

Die Osterferien waren zwei Wochen goldene Kindheit für mich. Meine Paten hatten ein grosses Herz für mich und in ihrem Wohnzimmer einen Schneewittchensarg von Braun. Den durfte ich ohne endlose Warnungen und Androhungen bedienen. Zwei Lieblingsplatten fallen mir sofort wieder ein. Erstens Charlie Brown von Hans Blum. Das Cover der Single fand ich umwerfend. Und weil meine Patentante durch unsere gemeinsamen Italienurlaube einen mediterranen Narren gefressen hatte an Pizza, Goldschmuck und Musik, gabs etliche Singles mit Liedern der Gewinner des jährlichen Schlagerwettbewerbs von San Remo. Mein Favorit war Vittorio mit dem Mondbrand (tintarella di luna), den sich Verliebte nächtens einfangen statt eines schnöden Sonnenbrands am Tage.

Ansonsten verlief das musikalische Leben ruhig. Ein guter Hefeteig braucht Zeit zum Gehen. Halt, da war noch der Kindermaskenball. Über den werde ich nur einmal berichten, weil es jedes Jahr die gleiche Zeremonie war. Ich zahlte 1 DM Eintritt und ging in den alten Saalbau. Auf der Bühne stand eine wild langhaarige Band. Die Namen damals waren Legion. The Rollicks, The Randals, The Rickets, The Rockets, The Rascals, The Taifuns, The … was weiss ich noch alles. Welche Maskerade ich getragen habe; es ist mir entfallen.
Da sah ich sie. Sie wohnte eine Strasse weiter. Was uns zusammenbrachte weiss ich bis heute nicht. Wir tanzten zu den Rhythmen der Musik beatmässig, will heissen, irgendwo musste ich gesehen haben, wie man sich zu der Musik zackig bewegt. Na, und dann die langsamen Tänze. Jungmännliche Peinlichkeiten. Zwischen neun und dreizehn Jahren erlebte ich mit ihr also fünf Kindermaskenbälle. Ich kann nicht erinnern, dass wir je gesprochen hätten. Auch heute sehen wir uns gelegentlich nochmal im Vorüberfahren und grüssen per Handwink. Man möchte fast an ein Karma glauben.

Im folgenden Jahr stand die Konfirmation an und der Beginn des Gitarrenunterrichtes. Zur Konfirmation überreichte mir der Jockel – ich weiss, wie oft er hier auftaucht aber er war wirklich eminent wichtig in meinem Leben – also der Jockel überreichte mir eine Langspielplatte. Vielleicht die neue von Beatles? Ich war gespannt. Denn davon hatte ich im Radio gehört. Stattdessen entnahm ich dem Geschenkpapier: The well-tempered Sythesizer. Wendy Carlos. Barockmusik aus dem Synthesizer. Zugegeben, ich habe etliche Durchläufe gebraucht bis mich die Musik hatte. Aber dann wurden Synthesizerklänge Teil meiner musikalischen Welt. Ein kleiner Teil vorerst noch, aber immerhin war es ein Anfang. Im Kino würde ich Jahre später Wendy Carlos wieder begegnen. Sie schuf die Musik zu dem Film Clockwork Orange.

Der Gitarrenunterricht wurde nach neun Monaten beendet. Sehnenfehler in der linken Hand. Von Dkango Reinhardt wusste ich noch nichts. Und zwischendurch neue Singles. Cream – White Room. Das Stück steht seit einem halben Jahrhundert auf meiner Ewig-Besten-Liste. Manfred Mann – Ha Ha said the Clown. Und ein erster (Glücks)Kauf für 1 DM aus der Grabbelkiste: Jacques Dutronc – Et moi et moi et moi. Hinter der einfachen Melodie ahnte ich nicht die politische Brisanz des Textes. Ein besonderer Fund war die Doppel-EP Magical Mystery Tour von den Beatles. Ein kleines Klappalbum mit Bildern. Der Film dazu wurde erst Jahre später gezeigt.


Und noch eine Band eroberte zunehmend meine Aufmerksamkeit: The Rolling Stones. Nicht mehr nachmittags vor dem Klangmöbel sitzen und Schlager auflegen. Meine Eltern hatten sich eine Anlage zugelegt.  Empfänger, Plattenspieler und Lautsprecherboxen. Das Tonmöbel konnte weg. Ich nahm mich der Sache an und zerlegte es. Den eingebauten Plattenspieler brauchte ich nicht. Das Röhrenradio stand völlig offen, ungeschützt auf einer Kommode im Zimmer herum. Die beiden Bretter mit den jeweils zwei Lautsprechern montierte ich an die geraden Lehnen meinen Sessels aus den 1950er Jahren. Über die beiden Schallbretter schraubte ich oben waagrecht zwei Latten zur Stabilität. Im Sessel sitzend, bliesen mir nun vier Lautsprecher die Musik in die Ohren. Trotz der beeindruckenden Lautstärke blieb der Sound bescheiden. Ideen sterben zuletzt. Ich kaufte im grossen Supermarkt zwei entsprechend dimensionierte Plastikschüsseln. Die schraubte (nagelte?) ich hinter die Lautsprecher und hatte durch den Resonanzraum nun ein gescheites Klangerlebnis. Wie gerne würde ich mich heute einmal sehen; in den Sessel gequetscht, rechts, links und überm Kopf die kühne Konstruktion. Ein Lied, das für immer in Verbindung mit diesem Sessel lebt, ist ebenfalls auf meiner Ewig-Besten-Liste. Eric Burdon & The Animals – When I was young. Schon der Anfang mit der verzerrten Geige. Ausserdem verstand ich den Text auf Anhieb. Endlich ein Text, den ich fast fehlerfrfei mitsingen konnte.

Etwa zu dieser Zeit habe ich zum ersten Mal den Beat-Club gesehen. Umwerfend. Wen ich gesehen habe? Keine Ahnung. Der Beat-Club samstagsnachmittags ist in meiner Erinnerung überlagert von den Kommentaren meines Vaters. Kleingeister können nicht gross denken. Das ist eine Grundregel, die Mittelstufenschüler gemäss des Lehrplans lernen müssten. Auf dass sie es im ganzen Leben nicht mehr vergessen.

Bei den Pfadfindern sangen wir weiterhin Fahrtenlieder. Wildgänse rauschen durch die Nacht. Das grosse Bundeslager aller deutschen und vieler ausländischer Pfadfinder an der Ostsee. Etwa viertausend Kinder und Jugendliche. Zum ersten Mal ohne Eltern im Sommerurlaub. Zahlreiche Spiele und Herausforderungen sportlicher und kreativer Art. Diese Freude aber auch. Von einem englischen Seepfadfinder tauschte ich etwas (?) von mir gegen seinen dunkelblauen Pullover mit der aufgestickten Schrift im Viertelkreis: Sea Scouts. Ich habe diesen Pullover jahrelang getragen bis er mir vom Körper gefallen ist.

In der Schule stand ich in Musik auf Vier. Die Versetzung würde ich jedenfalls schaffen. Das kommende Jahr, welche Aufregungen würde es bringen? Da fragst du als Junge in diesem Alter nicht weiter. Stattdessen klopft da was an die innere Seelentür. Von diesen Verwirrungen begreifst du noch nichts in diesem Alter. Es kommt einfach so über dich. Von Matthäus (24,42) und Markus (13-35) kommen warnende Stimmen der Art: „Sei also wachsam! Denn du weisst weder den Tag noch die Stunde.“

 

(Fortsetzung folgt)

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Musik liegt in der Luft (i)

 

Lesen: Christian Penning: Bike History. Die Erfolgsstory des Mountain Bikes. Fraglich, ob der E-Bike-Hype ohne die Mountainbikes in diesem Umfang möglich gewesen wäre.
Hören: Allan Holdsworth – Avatachron (1986) – Ein Gitarrist, der trotz seiner musikalischen Fähigkeiten ein Geheimtipp geblieben ist.
Essen & Trinken: Gebackene Blutwurst, Kartoffelstampf und hausgemachtes Apfelkompott. Sauergespritzter im Gerippten.
Arbeiten: Literatur aussortieren für öffentliche Bücherschränke.
Sehen: „Ophelia“ (2018). Shakespeare auf feministisch. Kann man versuchen. Ausstattung sehenswert. Versuch gescheitert.
Als Ausgleich drei tolle Frauen. Drei Generationen Thalbach in einer schnellen turbulenten Komödie. „Wir sind die Rossinskis“ (2016). Ein sehr amüsantes Vergnügen.

 

 

Auf einem Blog in der Nachbarschaft erstellte der Betreiber eine Liste zu verschiedenen Fragen musikalischer Vorlieben. In dem Beitrag wurden die Besucher aufgefordert, diese Fragen ebenfalls spontan zu beantworten. Für mich sind Listen zweischneidige Schwerter. Mein Aszendent schreit sofort: Auflisten! Andererseits fiel mir rasch auf, dass ich die Fragen so eindeutig garnicht beantworten konnte. Da Musik in meinem Leben eine starke Rolle spielte, ging ich mit den Fragen des dortigen Blogs eine Weile um und bedachte sie in Ruhe.

 

Musik. Ich vermute meine Urgrossmutter als Auslöser. Meine Eltern und Grosseltern habe ich nie singen oder musizieren gehört oder gesehen. Aber die Urgrossmutter. Da sehe ich noch immer Szenen in der Küche vor mir. Ihre leicht brüchige Stimme klingt mir nicht mehr im Ohr.

Die Tiroler sind lustig,
die Tiroler sind froh;
sie haben keine Betten
und schlafen auf Stroh.
Ru di ru di ral lal la…

Dieses Liedchen und nur diese eine (zweite) Strophe hat sie mir immer wieder vorgesungen. Irgendwann konnte ich mitsingen. Als ich mit etwa fünf Jahren zu den Pfadfindern kam, sind dann ganz andere Lieder gesungen worden. Von manchen dürfte ich wahrscheinlich nicht mal mehr die Titel hierher schreiben, ohne um die Folgen fürchten zu müssen. In der Mehrzahl sangen wir  jedoch bekannte Volkslieder.

Im Alter von sieben oder acht Jahren entdeckte ich das Musikmöbel meiner Eltern. Meines Vaters genauer. Denn es war wie beim Autofahren. Der Vater gab den Ton an. Ein Musikmöbel zu dem sein Name passte: Schaub-Lorenz Ballerina Konzert Stereo 10 MD.
Da sass ich nach den Hausaufgabe davor auf dem Fussboden. Öffnete die Klappe in der Mitte und schaltete die Apparatur ein. Meine Eltern hatten etwa zwanzig Singles und einige Langspielplatten. Ich legte die Singles auf den Plattenteller, setzte vorsichtig den Tonarm auf die erste Rille und lauschte. Ich träumte mich weg. Erst sehr viele Jahre ist mir bewusst geworden, dass beim Lesen die inneren Bilder von alleine aufsteigen. Beim Musikhören hingegen schuf ich mir die Bilder selbst. Meine Kindertherapie.
Connie Francis – Bacarole in der Nacht, Gitte – Ich will nen Cowboy als Mann, Gus Backus – Da sprach der alte Häuptling der Indianer sind einige Beispiele. Daneben gab es einige Singles von Herbert Hisel. Da verstand ich manchen Sinn zwar nicht, aber es gab trotzdem was zum Lachen. Die Langspielplatten von James Last und Max Greger interessierten mich ebenso wenig wie Das goldene Richard Tauber Album.
Und dann war noch die Single mit dem Schlösschen am unteren Rand. Für Jugendliche nicht erlaubt. Der Schlüssel war nicht im Plattenfach. Er schien überhaupt nirgends zu sein. Aber Not macht erfinderisch. Am Ende erklang eine Moritat. Allerdings etwas anderer Art als Sabinchen war ein Frauenzimmer.
Radio hörte ich kaum. So verging das Jahr. Ich sang bei den Pfadfindern und zur Musik von den Schallplatten.

Im folgenden Jahr verbrachten wir die Sommerferien an einem See im Salzkammergut. Unsere Unterkunft würde man heute als Landhotel bezeichnen. Hotel, Kneipe und eine Landwirtschaft in einem. Uns Kindern war das Wasser im See zu kalt. Die Erwachsenen lachten uns deswegen aus. Bei einigen Burschen reichten vereinzelte Haupthaare bis an die Oberkante ihrer Ohren. Die Erwachsenen überschütteten sie mit ihrem Spott.
In der Wirtschaft stand eine Musikbox. Die Alten steckten Münzen in den Schlitz der Maschine, drückten Tasten und volkstümliche Musik erklang. Wenn die Burschen in die Kneipe kamen, bedienten sie ebenfalls die Musikbox. Schon bei den ersten Klängen war nichts mehr wie zuvor.

Kaum begann das Lied erhoben die Alten lautstark ihre Stimmen. Schimpften über die ****musik, die langhaarigen ****burschen und verlangten vom Wirt, die *****platte rauszuschmeissen. Auch meine Eltern und deren mitreisende Freunde gaben ihre Kommentare mit gedämpfter Stimme zum Besten. Der Wirt schwieg und liess sich von dem pöbelnden Gerede nicht beeindrucken.

Wieder zuhause klangen die Singles im Musikmöbel irgendwie langweilig. Tausendmal gehört. Im Fernsehen tauchten neue Sterne auf. Fan bin ich nicht geworden, aber diese Sängerin fand ich richtig klasse.
Zufällig hörte ich im Radio Rag Doll. Damit bin ich für dieses Wundergerät wach geworden. Nun musste ich bloss noch neue aufregende Lieder finden. Es war ein halbherziges Unterfangen. Bei den Pfadfindern begleitete ein älterer Pfadi unsere Lieder auf der akustischen Gitarre.

Mein nächster Geburtstag stand an. Eine Schallplatte hätte ich mir gerne gewünscht: nur welche, das war die grosse Frage. Ich bekam, was man zehnjährigen Buben schenkt: Bücher, einen Bausatz für ein Modellauto. Das übliche halt. Bis auf das flache quadratische Geschenk von meiner Tante. Meine erste Langspielplatte. A Hard Day´s Night von The Beatles.

(Fortsetzung folgt)

 

 

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Bertholds Vermächtnis

Lesen: Christian Penning: Bike History. Die Erfolgsstory des Mountain Bikes. 1998. Erstaunlich, wie dieser Fahrradboom entstanden ist und vor allem in welcher Geschwindigkeit.
Hören:  ProgRock der feineren Art. Verschiedene Werke von Gong aus der 2. Hälfte der 70er Jahre. Instrumentale Bravourstücke.
Essen & Trinken: Käsekuchen. Zur ersten Degustation nach dem Backofen taugt ein sehr kleines Gläschen trockener Merlot.
Arbeiten: Literatur aussortieren für öffentliche Bücherschränke.

 

Annette wohnte in einem Wohnturm der sechziger Jahre. Im vierten von neun Stockwerken hatte man von ihrem Balkon einen weiten Ausblick. Sie war zuerst die Kommilitonin dann Kollegin meiner damaligen Freundin. So lernte ich sie kennen. Damals. 1978. Sie hatte einen modischen Kurzhaarschnitt und fuhr einen Renault R4. Sie war, so fällt mir jetzt ein, meistens gut drauf. Eines Tages bot sie mir einen Haarschnitt an. Die Zeit meiner schulterlangen Haare war abgelaufen. Wir mochten beide André Heller und Klaus Hoffmann. Es war praktisch, dass wir beide jeweils verschiedene Platten der beiden Sänger hatten. Wir liehen uns gegenseitig Platten aus. Zum Aufnehmen. (copy & paste gabs noch nicht).
Einige Male waren kleinere Eingriffe an ihrem R4 nötig. Ich reparierte diese Kleinigkeiten. Eine Bezahlung dafür lehnte ich ab.
In der Wohnung über Annette wohnte ein Paar. Durch die beiläufigen Grüsse im Treppenhaus war eine tiefere Bekanntschaft entstanden. Man sass öfter beieinander. Er hiess Berthold und der andere Er Andreas. An einem Wochenende sassen wir alle zusammen. Berthold hatte einen Käsekuchen gebacken. Ich liebe Käsekuchen seit Kindertagen. Nach dem zweiten Stück musste ich mich zusammenreissen. Es fiel mir schwer. So köstlich. Ich fragte nach dem Rezept. Keinesfalls teile er es mir mit; es sei ein Geheimrezept.

Zu meinem nächsten Geburtstag schenkte mir Annette zwölf Gutscheine. Einen für jeden Monat. Zwölf verschiedene Käsekuchen, einen in jedem Monat. Einer davon war der von Berthold. Auch Annette hatte das Rezept nicht bekommen. Berthold hatte den Kuchen selbst gebacken. Ich fragte Annette nach einigen der verarbeiteten Rezepte. Sie wolle sie für mich aufschreiben bei Gelegenheit.

 

Der Anruf kam spät abends. Annettes Stimme flatterte. Ich verstand erst nicht. Im Hintergrund lamentierte Andreas ganz jämmerlich. Gegen Abend war Berthold vom Balkon des fünften Stockwerks in die Tiefe gesprungen. Er war wohl sofort tot.
Annette übergab mir im Lauf des folgenden Sommers eines dieser kleinen chinesischen Bücher. Schwarzer Kartoneinband mit roten Ecken und Rücken. Darin hatte sie in ihrer freischwingenden Handschrift die verschiedenen Rezepte für Käsekuchen aufgeschrieben. Käsekuchen ohne Boden, Mamas Käsekuchen, flacher Käsekuchen, Käsekuchen Ilse, Käsekuchen mit Baiser und irgendwo mittendrin Bertholds Käsekuchen.

 

Wenn man lieben Besuch erwartet, passt Berthols Käsekuchen zum Nachmittagstee.

 

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leben trauern feiern

 

Lesen: Technische Daten zu alten Fahrrädern. Dazwischen dies und das.
Hören: John Paul Jones – The Thunderthief (2001). Der ehemalige Led-Zep Bassist. Heavy Progressive Rock steht auf der Schublade.
Essen & Trinken: Viel Gemüse. Mehr Wasser.
Arbeiten: Bei zwei Bauer Fahrrädern habe ich mir zu viel Zeit gelassen. Die Arbeiten daran will ich jetzt abschliessen.
Sehen: „Heute stirbt hier Kainer“ (2021). Eine herrliche Tragikomödie. So viel wirkliches Leben. Gedreht an illustren hessischen Schauplätzen.

 

Das Jahr 2023 ist Geschichte. Sogar der Anfang dieses Satzes ist, wenn der Punkt am Ende gesetzt sein wird, bereits Geschichte. Ich habe im vergangenen Jahr mein Testament gemacht. Das war mir wichtig.
In diesem Zusammenhang gewann ich Einblicke in das Geschäft der etwa 5000 Bestattungsunternehmen in Deutschland. Ein Milliardengeschäft mit der Trauer der Hinterbliebenen. Ihre Gefühle machen sie gleichsam wehrlos gegen fragwürdige Methoden.
Der Bruder meines Freundes war verstorben. Er lebte im Hunsrück. Es war sein Wunsch auf See bestattet zu werden. Mein Freund erzählte mir das alles bei einem Spaziergang an der Ostsee.
Was mich erstaunt, sagte er, dass zu den Kosten noch etwa dreitausend Euro für den Transport der Urne hierher kommen. Man darf nämlich in Deutschland eine Urne mit Inhalt nicht selbst transportieren.
So unterhielten wir uns. Über den Bruder, sein Leben und seinen Tod. Auch darüber, ob man Bestattern ausgeliefert sei, weil man nach dem Tod eines Angehörigen kaum Zeit hat, verschiedene Angebote für die Bestattung einzuholen. Wir besprachen das Thema lang und breit und kamen an den Rand der kleinen Ostseestadt. Da erblickten wir ein Bestattungsunternehmen.

Warum fragst Du da nicht mal nach den Kosten für eine Seebestattung? Und vielleicht ist es ja günstiger, die Urne aus dem Hunsrück zu holen anstatt sie von dort hierher bringen zu lassen. Kilometermässig ists die gleiche Strecke, aber wer weiss. Mein Freund trug dem Bestatter sein Anliegen vor. Der Mann beriet ebenso freundlich wie sachlich. Stellte ganz unterschiedliche Varianten vor.
Ich habe noch eine andere Frage, sagte mein Freund, wie kommt denn nun die Urne mit der Asche meines Bruders hier zu Ihnen?
Das ist überhaupt kein Problem in Deutschland. Über DHL gibt es einen eigenen Urnenversand. Für Urnenkarton und Versand rechnen Sie noch fünfundvierzig Euro hinzu.
Mein Freund erteilte noch vor Ort dem Bestatter den Auftrag.

Das war vor acht Jahren. Ich habe eben nochmal recherchiert. Inzwischen kostet der Urnenversand fünfundsechzig Euro und neunundneunzig Cent.

 

Wir haben vorgestern einen ehemaligen Klassenkameraden begleitet. Der Ruhewald liegt hoch über dem Rhein. Verwandte, viele Freunde und Nachbarn gingen schweigend auf dem weichen Waldboden hin zum Trauerplatz. Zuerst sprach der Bestatter einen beschämend schlechten Standardtext. Durch überflüssige Wiederholungen künstlich in die Länge gezogen.
Danach sprachen der hinterbliebene Bruder und ein enger Freund ergreifend herzliche Worte. Es schien, als stünde der Verstorbene wieder mitten unter uns. Sie erwähnten seine sozialen Stärken und überhaupt seine vielen verschiedenen Talente. Er spielte beispielsweise Saxophon. So gaben ihm auch seine vormaligen Mitspieler das musikalische Geleit. Der Wohlklang des Sax-Oktetts erfüllte den Wald. Anschliessend gingen wir einige Meter weiter zu dem Platz, an dem die Erde bereits ausgehoben war. Während wir uns nacheinander an dem Erdloch mit der Urne mit einigen Rosenblättern verabschiedeten, ergriff ein Trauergast seine Gitarre und ein Lied wurde angestimmt: Always look on the bright Side of Life.

 

Im Mittelalter stellte man sich vor, dass sich die Menschen freuen, wenn ein Kind geboren wird und dass die Engel über den Abschied weinten. Starb hingegen ein Mensch, weinten die hinterbliebenen Menschen und die Engel tanzten vor Freude über die Ankunft der Seele des verstorbenen Menschen.

 

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