Der Jockel wieder

 

 

 

Dass der Jockel in meinem Blog mehr Erwähnung findet als beispielsweise meine Eltern oder andere Verwandte, hat seinen guten Grund. Meine Eltern waren mir, soweit ich zurückdenken kann, in den entscheidenden Lebensphasen keine Vorbilder. Dagegen lernte ich beim Jockel Lebensfähigkeiten und das selbständige Denken, die mir seit Jahrzehnten immer wieder nützlich und eine wichtige Stütze sind.

Der Jockel und seine Frau sind kinderlos geblieben. Der Jockel war aufgeschlossen und kinderlieb. Ich war das erste von drei Kindern und späteren Jugendlichen, deren er sich im Lauf von vielleicht zwanzig Jahren in Bildungsangelegenheiten angenommen hatte. Wenn ich ihm gegenübersass mit zwölf, dreizehn Jahren in der Küche und jammern wollte, hatte der Jockel immer so einen Kick drauf, der mich damals innerlich verzweifeln liess. Später wurde ich manchmal wütend bei diesem Blick, liess mir aber nichts anmerken.
Ich wollte mir ein kleines Lob ergattern oder brauchte ein bisschen Puschei mit Muschebubu, da drehte er die Chose um und warf mich auf mich selbst zurück. Es ging ihm, das habe ich erst Jahre später erkannt, um Erkenntnis. Um den geraden Weg und den aufrechten Gang. Nimm Vernunft an; denke exakt über einen Vorgang und suche die Schuld nicht bei anderen Menschen. DU BIST.

Wenn ich mich über die Einzelteile oder die Gesamtheit meiner Eltern beschweren wollte, hörte er sich meine Klagen ruhig an und fragte dann trocken: „warum hast Du Dir denn diese Eltern ausgesucht?“

Lief es in der Schule schlecht; die Versetzung war gefährdet oder der Schulverweis stand ins Haus, und ich konnte alle Schuldigen benennen und hatte Ausreden parat, dann fragte er trocken: „Lassen wir die anderen Beteiligten mal für einen Moment weg. Was ist denn Dein persönlicher Anteil an dem, was jetzt anliegt? Dann schauen wir nach den anderen Beteiligten.“

Es ist eine unangenehme Situation. Es ist peinlich als Versager dazustehen in einer solchen Situation, die an die eigene Schuld rührt. Aber es ist die einzige Möglichkeit, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln, in dem man für sein eigenes Handeln die Verantwortung übernimmt. Mit allen möglichen Konsequenzen. Der Gewinn zeigt sich ebenfalls früher oder später.

 

 

Durch meine Erlebnisse in der Kindheit und Jugend habe ich mir eine ungünstige Körperhaltung angewöhnt. Unter der Atmosphäre und den entsprechenden Eindrücken beugte sich meine Seele weg und krümmte damit meinen Körper. Migränen folgten. Über Jahrzehnte. Häufige Rückzüge in dunkle Räume schon in der Jugendzeit sind mir wohlbekannt.

Ich gehöre zur ersten Generation, über der eine Vielzahl von Bewegungen und Therapien niedergegangen ist. Ich probiere gerne etwas aus oder beschäftige mich mit interessanten Ansichten und Theorien. Zumindest solange, bis ich sie durchschaut und als untauglich erkannt habe.
Eines Tages wurde ich mit einer Strategie bekannt.  Ich las in einem Buch wie eine Gymnastik in Verbindung mit einer Veränderung bestimmter Gewohnheiten starke Wirkung erzielt werden können. Es klang gut; die Gymnastik wirkte schnell. Meine Migränen verschwanden innerhalb weniger Wochen. Ohne Ärzte, Psychologen oder gar Medikamente. Und sie haben mich seitdem nicht wieder heimgesucht. Das ist jetzt glücklicherweise seit fast fünfzehn Jahren so. Inzwischen hat sich mein Skelett und folglich meine Körperhaltung wiederum verändert.
Seit einigen Jahren spüre ich Stellen im unteren Rücken. Mal schmerzt es heftiger, mal ist es erträglicher. Meine Seele streckt sich und mit ihr mein Körper. Ich gehe zu keinen Ärzten. Diese Plage gehört zu meinem Lebensweg. Inzwischen ist der Schmerz manchmal sogar mehrere Tage lang am Stück fast garnicht mehr zu spüren. Hin und wieder scheint er für kurze Zeit verschwunden. Dann bin ich dankbar dafür. Er erinnert mich daran, dass ich jetzt so leben kann, wie es als Kind für mich förderlich gewesen wäre und wie ich es mir als Jugendlicher und junger Erwachsener so sehr für mich gewünscht habe.

Und wer weiss; vielleicht werde ich es noch erleben, dass der Schmerz mich eines Tages ganz verlassen wird. So wie damals meine Migränen.

 

 

 

 

 

24 Gedanken zu “Der Jockel wieder

  1. Das liest sich in weiten Teilen wie aus meinem eigenen Leben, Robert. Auch ich hatte immer auch Begegnungen mit Menschen, die mich wenn auch unter Schmerzen etwas weiter brachten. Dito schätze ich heute die Macht der Selbstheilung, auf physischer Ebene mit Bewegung, Gymnastik, Atmung und einer bewussten Ernährung ebenso wie auf psychischer Ebene durch Gebet und Besinnung. Ist nicht jedem seins, aber mir hilft es alles in allem, mehr als alle Therapien und Ärzte, die ich nur aufsuche, wenn es unvermeidbar ist.

    Liebe Grüße, Reiner

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    1. Wir wachsen nur am unseren individuellen Hindernissen. Wer lernt als Schüler schon gerne Vokabeln; wers aber tut, erwirbt sich die Fähigkeit, eine andere Sprache sprechen zu können. Wie oft beendet man untaugliche Bezehungen nicht, ärgert sich lange und wird vielleicht krank davon, statt Klartext zu sprechen und seinen Weg zu gehen.
      Ärzte meide ich auch weitestgehend. Therapeuten habe ich kennengelernt, gebracht hats nichts. Rausgeworfenes Geld und verschwendete Zeit. Am Ende habe ich meine Probleme weitgehend selbst gemeistert.

      Schöne Grüsse,
      Robert

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      1. er litt zu sehr, um die welt nüchtern zu ertragen, kenne ich auch von anderen. sensibel sein kann auch zerstörerisch sein, wenn es keinen sicheren ausgleich gibt. lg, roswitha

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  2. Auch in meinem Leben gab es einen Jockel, in dem Fall eine Jockeline, sollte jedes Kind, jeder Heranwachsende haben. Auf die Eltern ist da nicht immer Verlass. Danke für den Text. Der hat mir gerade Erinnerungen wachgerufen. Alles Liebe Karin

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  3. Nicht nur andere gescheite Menschen können einen Leitfaden fürs Leben bieten: Punk war für mich so etwas: ich lernte Selbstbewusstsein, Durchsetzungsvermögen wo es nötig war, mich selber nicht zu ernst zu nehmen, keine Götter und Herrscher neben mir zu dulden ; ) etc… Kurz, ich erwachte!

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    1. In welcher Gestalt der Engel wirkt, ob in Gestalt von Menschen oder als Kunstform spielt keine Rolle. Hauptsache man ergreift die Möglichkeiten und wird selbst aktiv. Dann wird man sich verändern und damit auch die Welt.

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  4. es braucht ein dorf, einen jungen menschen aufwachsen zu lassen, sagt man. jedenfalls mindestens einen menschen neben den eltern, der geduld hat und lebensklug ist. erfreulich ist für mich, wie leib und seele miteinander arbeiten und einander beeinflussen, die naturheilkundler sprechen vom inneren arzt. ich freue mich, lieber robert, dass du diesen menschen hattest. lieben gruß, roswitha

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    1. In unserer Generation hatten wir als Widerstände unsere Eltern, an denen wir uns reiben und entwickeln konnten. Das scheint für heutigen Kinder vorbei. Generation Vorfahrt, weg da! ich bekomme, was ich will. Nicht alle Kinder, aber die meisten hier in unserem Kulturkreis.
      Mir tun diese Kinder leid, weil sie dem Entwicklungsdruck spätestens im harten Berufsleben schlagartig standhalten müssen.
      Bei mir warens einige wenige Menschen. Meine Migräne bin ich durch ein Buch losgeworden. Aber das hat ja auch ein Mensch geschrieben.
      Schöne Grüsse,
      Robert

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      1. „Generation Vorfahrt“ – das trifft ins Schwarze. Allerdings ist es nicht nur eine Generation, die meint, „ich stehe im Mittelpunkt, und alles andere ist für mich da oder muß verschwinden“, und dabei sogar Naturgesetze für vernachlässigbar hält. Das können auch schon sehr viele, die die 60 hinter sich haben.

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        1. Da stimme ich Dir natürlich sofort zu. Mir fallen als Beispiel sogleich als Silvesterraketen verkleidete Greise auf E-Bikes ein, die wie eine Büffelherde durch den wald rasen.Und der Rest in der Umgebung hat unverzüglich den Weg freizugeben…

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