Bertholds Vermächtnis

Lesen: Christian Penning: Bike History. Die Erfolgsstory des Mountain Bikes. 1998. Erstaunlich, wie dieser Fahrradboom entstanden ist und vor allem in welcher Geschwindigkeit.
Hören:  ProgRock der feineren Art. Verschiedene Werke von Gong aus der 2. Hälfte der 70er Jahre. Instrumentale Bravourstücke.
Essen & Trinken: Käsekuchen. Zur ersten Degustation nach dem Backofen taugt ein sehr kleines Gläschen trockener Merlot.
Arbeiten: Literatur aussortieren für öffentliche Bücherschränke.

 

Annette wohnte in einem Wohnturm der sechziger Jahre. Im vierten von neun Stockwerken hatte man von ihrem Balkon einen weiten Ausblick. Sie war zuerst die Kommilitonin dann Kollegin meiner damaligen Freundin. So lernte ich sie kennen. Damals. 1978. Sie hatte einen modischen Kurzhaarschnitt und fuhr einen Renault R4. Sie war, so fällt mir jetzt ein, meistens gut drauf. Eines Tages bot sie mir einen Haarschnitt an. Die Zeit meiner schulterlangen Haare war abgelaufen. Wir mochten beide André Heller und Klaus Hoffmann. Es war praktisch, dass wir beide jeweils verschiedene Platten der beiden Sänger hatten. Wir liehen uns gegenseitig Platten aus. Zum Aufnehmen. (copy & paste gabs noch nicht).
Einige Male waren kleinere Eingriffe an ihrem R4 nötig. Ich reparierte diese Kleinigkeiten. Eine Bezahlung dafür lehnte ich ab.
In der Wohnung über Annette wohnte ein Paar. Durch die beiläufigen Grüsse im Treppenhaus war eine tiefere Bekanntschaft entstanden. Man sass öfter beieinander. Er hiess Berthold und der andere Er Andreas. An einem Wochenende sassen wir alle zusammen. Berthold hatte einen Käsekuchen gebacken. Ich liebe Käsekuchen seit Kindertagen. Nach dem zweiten Stück musste ich mich zusammenreissen. Es fiel mir schwer. So köstlich. Ich fragte nach dem Rezept. Keinesfalls teile er es mir mit; es sei ein Geheimrezept.

Zu meinem nächsten Geburtstag schenkte mir Annette zwölf Gutscheine. Einen für jeden Monat. Zwölf verschiedene Käsekuchen, einen in jedem Monat. Einer davon war der von Berthold. Auch Annette hatte das Rezept nicht bekommen. Berthold hatte den Kuchen selbst gebacken. Ich fragte Annette nach einigen der verarbeiteten Rezepte. Sie wolle sie für mich aufschreiben bei Gelegenheit.

 

Der Anruf kam spät abends. Annettes Stimme flatterte. Ich verstand erst nicht. Im Hintergrund lamentierte Andreas ganz jämmerlich. Gegen Abend war Berthold vom Balkon des fünften Stockwerks in die Tiefe gesprungen. Er war wohl sofort tot.
Annette übergab mir im Lauf des folgenden Sommers eines dieser kleinen chinesischen Bücher. Schwarzer Kartoneinband mit roten Ecken und Rücken. Darin hatte sie in ihrer freischwingenden Handschrift die verschiedenen Rezepte für Käsekuchen aufgeschrieben. Käsekuchen ohne Boden, Mamas Käsekuchen, flacher Käsekuchen, Käsekuchen Ilse, Käsekuchen mit Baiser und irgendwo mittendrin Bertholds Käsekuchen.

 

Wenn man lieben Besuch erwartet, passt Berthols Käsekuchen zum Nachmittagstee.

 

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20 Gedanken zu “Bertholds Vermächtnis

  1. Schöne Erinnerung!
    Ich mag solche Geschichten.
    Frage steht, ob der ‘liebe Besuch’ vom Kuchen etwas abbekommt. Zu Beginn des Beitrages fehlte ein Stück, zum Schluss sehe ich nur noch ein Viertel.
    Er muss fantastisch schmecken ;-)))

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    1. Berthold fällt mir regelmässig ein, wenn ich zu intensiv an Käsekuchen denke oder ein besonderes Stück koste.
      Das andere waren die alten Zeiten – jeder half mit den Fähigkeiten, die er hatte. Das Geschlecht war egal für uns – die goldene Generation – Hauptsache, man konnte etwas einsetzen fürs gemeinsame Weiterkommen. Handwerkliche Fähigkeiten zählten genauso wie soziales Engagement.
      Ich muss enden, sonst wünsche ich mir ein Stück dieser vergangenen Zeit zurück…
      Viele Grüsse,
      Robert

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  2. Seufz. Was wühlst du da auf? Wenn du wüsstest!
    Ich habe eine Phobie vor Telefonklingeln, wenn ich morgens noch im Bett liege.

    Da war ebenfalls ein Selbstmord im Bekanntenkreis, der mir „aus heiterem Himmel“ eines Morgens von der eben entstandenen Witwe gemeldet wurde.

    Klingelt heute das Telefon und ich bin zufällig noch im Bett: Dann ist es jedesmal diese Blitzerweckung: Scheiße, was wird das wieder sein!

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  3. Da du das Rezept für den Käsekuchen bisher zurückhält, nehme ich an, du möchtest danach gefragt werde! Also hier meine Frage nach dem Grund, daß ich jetzt einen wässerigen Mund habe…

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  4. lieber robert, für mich ist es trotz tollem käsekuchen eine sehr nachdenkliche geschichte. es war wirklich für schwule männer noch schwieriger als heute. unser freund wurde sehr zusammengeschlagen, weil er lackierte fingernägel in der s-bahn hatte. viele hatten noch das gefühl, irgendwie falsch zu sein. ein anderer freund heiratete eine frau, um endlich ruhe zu haben. aber 1978 war auch das russel-tribunal in der heidelberger stadthalle, mit einem stand der schwulen unigruppe.
    für den käsekuchen ist bei uns die tochter zuständig, ihrer sieht auch so aus und schmeckt wunderbar. ich werde sicher gelegentlich an berthold denken.

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    1. Liebe Roswitha, du hast natürlich Recht. Die Situation andersdenkener und/oder -fühlender Menschen lässt sich gegen das Rezept eines Käsekuchens nicht aufwiegen. Das war auch nicht meine Absicht.
      Mir ging es lediglich um meine Lebensnovelle.
      Sollte ich etwa über Bauern schreiben, oder über die Landwirtschaaftspolitik der rechten CSU/CDU seit 2005?
      Da erinnere ich mich doch lieber Berthold und einen schmackhaften Käsekuchen.
      Liebe Grüsse,
      Robert

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      1. lieber robert, du hast mich falsch verstanden, es war keine kritik, nur gingen bei mir die erinnerungen los beim lesen. und wenn mehr menschen gelegentlich an menschen wie berthold und andere denken, so ist das nicht schädlich. hab einen guten tag, gruß roswitha

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        1. Ich hätte deinen Kommentar anders beantworten können.
          Prinzipiell möchte ich mit meinen Lebensnovellen die Menschen meines Blogs anregen. Und wenn bei dir Erinnerungen aufgestiegen sind, dann finde ich das schön weil mein Bericht schon dadurch sinnerfüllt ist.
          Auch dir einen schönen Tag,
          Robert

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